»Er spricht.«
»Wie denn, in welcher Sprache?«
»In menschlicher.«
»Was sagt er denn zu Ihnen?«
»Gerade heute verkündete er mir, ein Dummkopf würde mich besuchen und alberne Fragen stellen. Sehr viel, Mönch, verlangst du zu wissen.«
»Furchtbar sind Ihre Worte, gerechtester, heiligster Vater!« sagte der Mönch, den Kopf hin und her wiegend. In seinen ängstlichen kleinen Augen war auch etwas Mißtrauen zu bemerken.
»Siehst du diesen Baum?« fragte Vater Ferapont nach einer Weile.
»Ja, ich sehe ihn, gerechtester Vater.«
»Du meinst, er ist eine Ulme? Nach meiner Meinung ist er etwas anderes.«
»Was denn?« fragte der Mönch, nachdem er eine Weile vergeblich auf eine Erläuterung gewartet hatte.
»Manchmal des Nachts ... Siehst du diese beiden Äste? Des Nachts streckt dort Christus verlangend seine Arme nach mir aus, ich sehe es deutlich und zittere. Furchtbar, oh, furchtbar!«
»Was ist daran so furchtbar, wenn es Christus ist?«
»Er wird mich fassen und hinauftragen.«
»Lebendig?«
»Im Geist und in der Kraft des Elias, hast du davon noch nichts gehört? Er wird mich umarmen und davontragen ...«
Nach diesem Gespräch war der Mönch aus Obdorsk zutiefst verwundert, doch stand er innerlich eher auf seiten des Vaters Ferapont als auf seiten des Vaters Sossima, als er in die Zelle zurückkehrte, die man ihm bei einem der Brüder zugewiesen hatte. Er war vor allem für das Fasten, und deshalb war es für ihn nicht erstaunlich, wenn ein großer Faster wie Vater Ferapont »Wunderbares erschaute«. Seine Worte schienen zwar etwas unverständlich, aber Gott mußte ja wissen, was für ein Sinn darin verborgen lag; bei den um Christi willen Törichten kamen noch ganz andere Worte und Taten vor. An den eingeklemmten Teufelsschwanz wollte er nicht nur im übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinne von Herzen gern und bereitwillig glauben. Außerdem hatte er schon früher ein starkes Vorurteil gegen das Starzentum gehabt, das er bis dahin nur vom Hörensagen kannte und auf das Urteil anderer hin für eine schädliche Neuerung hielt. Während seines eintägigen Aufenthaltes im Kloster hatte er auch bereits das heimliche Murren einiger leichtsinniger Brüder bemerkt, die mit dem Starzentum unzufrieden waren. Zudem war er von Natur sehr beweglich und hatte für alles mögliche Interesse. Die große Nachricht von dem neuen »Wunder« des Starez Sossima versetzte ihn deshalb
außerordentlich in Erstaunen. Aljoscha erinnerte sich später, unter den Mönchen, die sich um die Zelle des Starez drängten und zu ihm wollten, war häufig die eifrige, auf alles horchende und nach allem fragende Gestalt des Gastes aus Obdorsk aufgetaucht. Doch hatte er ihn damals wenig beachtet, weil ihn ganz andere Dinge beschäftigten.
Der Starez Sossima, der sich wegen starker Müdigkeit wieder ins Bett gelegt hatte, erinnerte sich auf einmal Aljoschas und wollte ihn sprechen, obwohl ihm schon die Augen zufielen. Als Aljoscha zu ihm kam, traf er beim Starez nur Vater Paissi, den Priestermönch Vater Jossif und den Novizen Porfiri. Der Starez schlug die Augen auf, blickte Aljoscha lange an und fragte plötzlich: »Erwarten dich die Deinigen, lieber Sohn?«
Aljoscha stammelte etwas.
»Bedürfen sie deiner nicht? Hast du gestern jemand versprochen, heute zu ihm zu kommen?«
»Ja, ich habe es versprochen ... dem Vater ... den Brüdern ... und anderen.«
»Siehst du, so geh unter allen Umständen zu ihnen! Sei nicht traurig! Wisse, daß ich nicht sterben werde, bevor ich nicht in deiner Gegenwart mein letztes Wort gesagt habe, und zwar zu dir, dir will ich es als Vermächtnis hinterlassen. Dir, lieber Sohn, weil du mich liebst. Jetzt aber geh zu denen, die dich erwarten!«
Aljoscha gehorchte, ohne zu zögern, allerdings schweren Herzens. Doch das Versprechen des Starez, er werde sein letztes Wort vernehmen, gleichsam als Vermächtnis, tröstete und beglückte ihn. Er wollte sich beeilen und so schnell wie möglich alles in der Stadt erledigen, um bald zurückkehren zu können. Als er mit Vater Paissi die Zelle des Starez verließ, gab dieser ihm noch ein Geleitwort mit auf den Weg, das einen unerwartet starken Eindruck auf ihn machte.
»Sei immer dessen eingedenk, Jüngling«, begann Vater Paissi ohne jede Einleitung, »daß die weltliche Wissenschaft eine große Macht geworden ist und namentlich im letzten Jahrhundert alles kritisiert hat, was uns in den heiligen Büchern Himmlisches vermacht worden ist. Die unbarmherzige Analyse der Gelehrten hat von allem, was früher heilig war, nichts übriggelassen. Sie untersuchten aber nur immer die einzelnen Teile und niemals das Ganze; man muß sogar die Blindheit bewundern, mit der sie dabei verfahren sind. Das Ganze jedoch steht vor ihren eigenen Augen unerschüttert da wie vorher, und die Pforten der Hölle können es nicht überwältigen. Hat es denn nicht neunzehn Jahrhunderte lang gelebt, lebt es nicht auch jetzt noch in den Bewegungen der einzelnen Seelen und denen der Volksmassen? Sogar in den Bewegungen der Seelen jener Atheisten, die alles zerstört haben, lebt es wie vorher, unerschütterlich! Denn auch diejenigen, die sich vom Christentum lossagten und sich dagegen empören, zeigen ihrem eigentlichen Wesen nach denselben Christustypus und blieben dieselben; denn bis jetzt war weder ihre Weisheit noch die Wärme ihres Herzens imstande, für den Menschen und seine Würde ein anderes, höheres Vorbild zu schaffen, als Christus uns vor alters gewiesen hat. Die Produkte aller ihrer Versuche waren nur Mißgeburten. Sei dessen besonders eingedenk, Jüngling! Denn dein hinscheidender Starez hat dich dazu bestimmt, in die Welt hinauszugehen. Vielleicht wirst du, wenn du dieses großen Tages gedenkst, auch meine Worte nicht vergessen, die ich dir von ganzem Herzen mit auf den Weg gebe;
denn du bist noch jung, und die Anfechtungen in der Welt sind schwer – deine Kräfte allein können ihnen nicht widerstehen. Und jetzt geh, du Ärmster!«
Mit diesen Worten segnete ihn Vater Paissi. Als Aljoscha das Kloster verließ und alle diese unerwarteten Worte überdachte, wurde ihm plötzlich klar, daß er in diesem strengen, ihm gegenüber bisher so finsteren Mönch unverhofft einen neuen Freund und liebenden neuen Führer gefunden hatte – beinahe wie vom Starez Sossima auf dem Totenbett vermacht. Vielleicht haben sie das untereinander abgemacht, überlegte Aljoscha. Vater Paissis soeben gehörte unerwartete Belehrung zeugte von dessen gütigem Herzen. Er beeilte sich, den jugendlichen Geist so schnell wie möglich für den Kampf mit den Versuchungen zu wappnen und die ihm anvertraute jugendliche Seele mit der denkbar festesten Rüstung auszustatten.
2. Beim Vater
Zuallererst ging Aljoscha zum Vater. Als er sich dem Haus näherte, fiel ihm ein, daß der Vater ihn am Tag vorher dringend gebeten hatte, so hereinzukommen, daß sein Bruder Iwan es nicht merkte. ›Warum?‹ fragte sich Aljoscha jetzt. ›Wenn der Vater mir etwas allein sagen will, warum soll ich denn heimlich hereinkommen? Wahrscheinlich wollte er gestern etwas anderes sagen und traf in der Aufregung nicht den richtigen Ausdruck?‹ Dennoch war er sehr froh, als Marfa Ignatjewna, die ihm öffnete – Grigori war krank und lag im Seitengebäude im Bett –, ihm mitteilte, Iwan Fjodorowitsch sei vor zwei Stunden ausgegangen.
»Und der Vater?«
»Der ist aufgestanden und trinkt Kaffee«, antwortete Marfa Ignatjewna ein wenig trocken.
Aljoscha trat ein. Der Alte saß am Tisch, in Pantoffeln und einem alten Paletot, und sah ohne besondere Aufmerksamkeit, mehr zur Unterhaltung, Rechnungen durch. Er war allein im Hause; Smerdjakow war ausgegangen, um zum Mittagessen einzukaufen. Seine Gedanken waren nicht bei den Rechnungen. Obgleich er zeitig aufgestanden war und ein forsches Wesen herauskehrte, sah er müde und schwach aus. Die Stirn, auf der über Nacht gewaltige blutrote Beulen entstanden waren, hatte er mit einem roten Tuch umwickelt. Auch auf der stark angeschwollenen Nase hatten sich einige, wenn auch unbedeutende, blutunterlaufene Stellen gebildet, die dem ganzen Gesicht einen besonders bösen, gereizten Ausdruck verliehen. Der Alte wußte das und sah den eintretenden Aljoscha unfreundlich