Er geht die langen Gänge weiter und hat langsam das Gefühl, die Orientierung verloren zu haben. Schließlich holt er den Zettel von Consuelo hervor, wendet und dreht das Blatt, doch schlau wird er aus der Zeichnung nicht. Also spricht er einen Standbesitzer an und zeigt ihm die Skizze. Der antwortet ihm: »Sie sind fast da. Den Gang immer weiter durchgehen, die Bar Ostra liegt gegenüber den Fischständen. Sie können es nicht verfehlen.«
Der kleine Stand mit seinen riesigen Keramikschalen, gefüllt mit frischen Austern auf zerstoßenem Eis und garniert mit jeder Menge Zitronenstücken, ist tatsächlich nicht zu übersehen. Sven betrachtet die verschiedenen Austernsorten. Dann bestellt er ein Glas cava rosado und drei Fines de claires. Während er auf die Austern wartet, schaut er zu dem Fischstand auf der anderen Seite. Er schätzt die Theke auf rund acht Meter Länge, eng nebeneinander liegen dort große und kleine Fische, Hummer und Garnelen, ganze Fische und Berge von Fischfilets. Sein Blick bleibt an einem kleinen Fisch hängen mit einem riesigen Maul und vielen kleinen spitzen Zähnen. Er geht zur Auslage hinüber und schaut sich den Fisch genauer an.
»Der hat ja sogar Zähne auf der Zunge.« Der Spanier hinter der Theke in seiner blau-weiß karierten Schürze greift den Fisch und hält ihn Sven vor das Gesicht. »Ein Drachenfisch, ein Tiefseefisch. Wäre er größer, könnte man sich glatt vor ihm fürchten.«
Sven schüttelt sich. »Und was ist das für einer?« Er zeigt auf einen Meeresbewohner mit einem extrem großen, breiten und abgeflachten Kopf mit riesigen, kräftigen Zähnen.
»Das ist ein Seeteufel, sehr schmackhaft und bekömmlich.«
Sven nickt. Seeteufel hat er schon oft gegessen, aber noch nie als ganzen Fisch gesehen. Eine Schönheit ist das nicht, aber sein grätenloses Fleisch ist ein Genuss.
Die junge Bedienung ruft herüber. »Señor, die Austern.«
Sven geht zur Bar Ostra zurück und nimmt den Teller entgegen. Er greift sich eine Auster, träufelt Zitrone über das Muschelfleisch und löst es mit einer kleinen Gabel von der Schale. Dann setzt er die Schale an den Mund und schlürft den Inhalt in einem Zug. Er lässt das Austernfleisch im Mund kreisen. Nicht alle teilen seine Leidenschaft für Austern, aber für ihn sind sie eine einmalige Kombination aus erfrischendem Meeresaroma und einer Energiezufuhr, die er bei keinem anderen Lebensmittel bisher so erlebt hat. Nach drei köstlichen Austern hat er das Gefühl, Bäume ausreißen zu können. Kurz überlegt er, ob er sich noch einen Teller bestellen soll, doch dann entscheidet er sich für eine kleine Portion gegrillte almejas und gegrillte navajas. Dazu gönnt er sich ein weiteres kleines Glas eisgekühlten Rosé-Sekt. Er klappt sein Tablet auf und vermerkt: Der leicht nussige Geschmack der Venusmuscheln wird durch einen Hauch von Knoblauch intensiviert, die Holzkohle gibt ihnen eine rauchige Komponente, die den Geschmack nach Meer unterstreicht. Die Taschenmessermuscheln mit ihrem festen Fleisch haben hingegen einen milden, leicht süßlichen Geschmack, der durch einige Tropfen Zitronensaft belebt wird. Er bezahlt, verabschiedet sich von Antonia, die ihm die Köstlichkeiten serviert hat, bestellt ihr noch schnell Grüße von Consuelo, winkt dem Fischverkäufer zu und schlendert dann weiter über den Markt. Am anderen Ende der Halle findet er die Tapas-Bar La Tapita, die zweite Empfehlung seiner Vermieterin. Auf kleinstem Raum werden auch hier allerlei Köstlichkeiten angeboten. Sven setzt sich an die Bar und schaut zu, wie zwei Männer geschickt und schnell cañas zapfen und der silbernen Kaffeemaschine keine Pause gönnen. Insbesondere carajillo, ein Espresso mit Rum oder Brandy, wird häufig bestellt. Wie er es sich schon gedacht hat, sitzt man an der Bar nicht lange allein. Ein Einheimischer spricht ihn an und erzählt ihm mit Begeisterung, dass er mindestens dreimal die Woche die Mittagspause in dieser Bar verbringt. »Sie müssen wissen, pinchos, ensaladilla und Gambas a la plancha gibt es hier jeden Tag. Aber das wechselnde Tagesgericht ist jedesmal eine Überraschung.« Dann nickt er dem älteren Mann hinter der Theke zu, deutet auf eine Glasvitrine und streckt fünf Finger in die Höhe. Interessiert beobachtet Sven, wie sein Gesprächspartner einen Teller mit fünf unterschiedlichen pinchos entgegennimmt: dünne, geröstete Weißbrotscheiben, belegt mit Serranoschinken, Garnelen, verschiedenen Sorten Käse und einer rötlichen Streichwurst.
»Wollen Sie probieren?«
»Nein, nein. Ich will Ihnen ja nichts wegessen«, wehrt Sven ab.
»Nun probieren Sie schon.«
Sven greift sich die Scheibe mit dem Wurstaufstrich.
»Gute Wahl, das ist sobrasada, eine mallorquinische Wurstspezialität.«
Sven beißt ab und kaut konzentriert. »Sehr gut, sehr würzig. Ich schmecke Paprika, Thymian und Rosmarin heraus.« Er schiebt den Rest nach, während sein Gesprächspartner das kleine Stück Brot mit Serranoschinken im Ganzen in seinem Mund verschwinden lässt.
»Die sobrasada ist eine luftgetrocknete Rohwurst ohne Farbstoffe. Sie besteht aus Schweinefleisch, Speck, edelsüßem Paprikapulver und natürlich den Gewürzen, die Sie schon herausgeschmeckt haben«, erläutert er mit vollem Mund.
»Und was gibt es heute als Tagesgericht?«, fragt Sven, der jetzt erst richtig Appetit bekommen hat.
Der Sitznachbar schaut sich um und zeigt zu einer Schiefertafel, auf der mit Kreide geschrieben steht: Chuletas de cordero.
»Oh, die Lammkoteletts müssen Sie unbedingt probieren, die sind hier ausgezeichnet.« Sven fährt sich unschlüssig mit der Hand über sein Kinn. Eigentlich wollte er heute Abend noch das La Parada del Mar besuchen, ein Fisch-Restaurant in der Nähe des Marivent-Palastes, das ihm sein Freund Tim empfohlen hat. Das verschiebe ich besser auf morgen, entscheidet er, sonst bekomme ich gleich an meinem ersten Tag auf Mallorca noch einen Eiweißschock. Während er dann doch eine kleine Portion Lammkoteletts mit Kartoffeln isst, erzählt ihm sein Sitznachbar einiges über den Wohnungsmarkt in Palma und über die kernsanierten und mittlerweile fast unbezahlbaren Stadthäuser von Santa Catalina. Sven hört interessiert zu. »Welches sind denn die teuersten Orte?«, will er wissen.
»Die Quadratmeterpreise in den Regionen Südwest, Nordwest und Palma liegen bis zu einem Drittel über dem Inseldurchschnitt.«
»Und wie kann sich dann eine Familie das Leben in der Hauptstadt leisten?«
»Indem sie aus der Altstadt rauszieht und in einfachen Wohnblocks unterkommt.«
»Die enormen Preissteigerungen sind also hauptsächlich im Luxussegment anzutreffen?«
»Ja, so wie überall. Wie heißt es doch so schön: Lage, Lage, Lage und natürlich entweder historisch oder supermodern.« Sven schaut sein Gegenüber erstaunt an.
»Für Luxusimmobilien, die 2007 noch zwei Millionen gekostet haben, müssen Interessenten heute mindestens fünf Millionen hinblättern.«
»Da sollte ich wohl den Beruf wechseln«, erwidert Sven.
»Das lassen Sie mal lieber. Es gibt genügend kleinere Immobilienmakler, die auf Mallorca ums Überleben kämpfen müssen.« Sven blickt auf seine Armbanduhr, trinkt den Espresso aus, den er sich nach fast jedem Essen gönnt, und verabschiedet sich von seinem Gesprächspartner. Er braucht jetzt erst mal eine kleine Siesta.
Nach einer kurzen Verschnaufpause auf seinem Liegestuhl entschließt sich Sven, das Hotel Hospes Maricel aufzusuchen. Es liegt an derselben Straße wie seine Unterkunft, gerade einmal drei Minuten zu Fuß entfernt. Das Luxushotel soll über eine exzellente Bar verfügen und den Gästen einen atemberaubenden Blick über das Meer bieten, hatte ihm Tim verraten. Je weiter er die Hauptstraße entlang geht, desto mehr wird von dem rechteckigen Bau aus hellen Sandsteinquadern sichtbar. Mit seinem turmartigen Abschluss an einer Seite wirkt die Anlage wie eine Festung. Sven ist erstaunt. Wer knallt denn so einen Koloss in die Landschaft? Von außen sieht das Gebäude eher nach einem alten Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert als nach einem Wellness-Hotel aus.
Als er die Eingangshalle durchquert, stellt er fest, dass die Inneneinrichtung nicht nur hochwertig, sondern auch geschmackvoll ist. Die Terrassen,