kamen, durfte ich meistens mitspielen, ob’s den anderen gepaßt hat oder nicht. Leider glaube ich, daß ich vielleicht bissel gepetzt habe, wenn ich auf die Schippe genommen wurde. Ich war ein Muttersöhnchen. Aber eins konnte ich, was die Weibleins nicht konnten: Direkt vor unserem Haus stand ein Lindenbaum. Ich weiß nicht genau, ob’s ein Lindenbaum war, aber jedenfalls in drei Meter Höhe hat der sich gegabelt – ein Riesenstamm ging nach rechts und der andere nach links. Und in der Mulde, da hab ich gern gesessen und mir die Welt angeguckt. Die Mädls kamen da nie hoch. An unser Haus kann ich mich nur spärlich erinnern, und manchmal vermute ich, daß meine Erinnerungen sich mit den Schilderungen meiner Mädels vermischen. Ins Wohnzimmer zu gehen wurde uns kaum erlaubt, obwohl ich weiß, daß da ein großes, rötliches Sofa stand mit zwei Polstersesseln und ein großes Radio, auf dem eine braune Holzfigur stand. Es war Jesus, der Schäfer, der ein kleines Schaf auf dem Arm trug, und in der anderen Hand hielt er einen großen Stab. Ich konnte gerade so da hochreichen, denn wenn man Jesus einen kleinen Stups gab, dann nickte er ganz freundlich für ’ne Weile. In Mutters Schlafzimmer war ein großes Bett und ein Schrank, und über dem Bett hing ein Bild von Jesus, wieder mit einem Lamm im Arm. Die Mädels sagten mir oft, daß Muttls Schlafzimmer und unsere Wohnstube das heilige Sanktum im Haus waren, wo wir kaum reindurften. Meine nächste, feste Erinnerung ist, wo ich mich auf mein Dreirad setzte und in die Stadt bis zum Ring radelte. Am Ring war ein Eiscafe, eine Eisdiele, da bin ich reingegangen, hab mein Dreirad unter der Theke geparkt und habe höflich nach einer Eiscreme gefragt, die ich auch bekam. Das Leben war doch so wunderbar, wenn man etwas unternahm. Ich fühlte mich so erwachsen und fragte flugs nach ’ner zweiten Portion, die ich auch bekam, und die schmeckte noch besser als die erste. Und während ich an die dritte dachte, kam Muttl rein: Also, aus der dritten Eiscreme wurde nichts. Es folgte eine laute Predigt. Die Eisfrau hatte Muttl angerufen. Wir hatten kein Telefon, aber die Frau Major hatte eins. Ja, und das war der erste und letzte Ausflug, den ich allein unternommen habe, denn das wurde mir streng untersagt für die Zukunft. Ich durfte nicht mehr allein aus dem eisernen Tor raus. Wenn man bei uns aus dem Küchenfenster rausgeguckt hat – wir hatten keinen Hinterhof –, da war gleich eine Landstrasse und darüber war ein großes, umzäuntes Gelände. Große Baracken standen in der Mitte, und auf den Feldern waren oft viele Leute in blauen Schlosseranzügen. Die Mädl’s sagten, daß das tschechische, polnische und russische Kriegsgefangene sind, die dort trainiert und ausgebildet wurden. Uns wurde befohlen, nicht groß rüberzugucken, aber wir haben das oft vom Fenster aus getan. Diese Mannschaften zogen oft in Arbeitskolonnen an uns vorbei, um in der Stadt nach dem Rechten zu schauen. Wenn die Leute was verkehrt gemacht hatten, haben sie oft Prügel gekriegt mit der Peitsche, und ich habe auch einmal gesehen, wie ein Mann auf dem Boden lag und da noch getreten wurde. Ich hab mich dann bei Muttl beschwert, und sie bat mich, da nicht mehr hinzuschauen, sondern die Gardinen zuzulassen. Einmal hörte Muttl, dass die Leute, wenn sie unsere Abfalltonnen leerten, nach was Essbarem suchten. Da wurde mit den anderen Frauen diskutiert, und von da an ließ man eingewickelte Essensreste oben in den Trommeln. Eines Tages gingen wir zu Fuß in die Stadt, aber Annelies blieb daheim. Als wir zurückkehrten, fanden wir mein großes Schwesterlein unheimlich aufgeregt und verheult vor, und Frau Zeunert saß bei ihr und hat sie an sich gehalten. Unter Tränen und Schluchzen stammelte sie, daß sie beim Haarekämmen im Spiegel sah, wie eine Hand hinter ihr zum Türspalt reinkam, worauf sie sich mit aller Gewalt gegen die Tür warf. Die Hand ließ etwas fallen und versuchte sich zu entziehen, was ihr nach ’ner Weile auch gelang. Der Gegenstand war ’ne Art Spielzeug; eine runde Holzplatte, worauf vier Küken standen, und wenn man einen Faden zupfte, fingen die Küken an zu picken. Das muß einer von den armen Kerlen nebenan gewesen sein, der bestimmt das Ding tauschen wollte für was Essbares. Nun haben die Frauen geheult und beschlossen, dann mehr Esszeug in den Trommeln zu lassen, bis dann eines Tages ein Offizier kam und Mutter unheimlich laut verwarnte. Wenn das noch einmal vorkäme, würde sie eingesperrt werden. Aber da hat Muttl ihre Geduld verloren und hat dem Mann ordentlich ihre Meinung gegeben von wegen „Bestrafen“. Und ob er sich nicht schäme, die Leute nebenan verhungern zu lassen und warum er nicht wie unser Vatl an der Front kämpft. Die gute Frau Major kam hinzu und hat die Sache beschwichtigt. Sie hatte des Mannes Auto und den Fahrer vor unserem Haus gesehen und schon gedacht, daß unserem Vatl was zugestoßen war. Schliesslich machte sich der Offizier von dannen, aber die Frau Major sagte dann zu Muttl: „Frau Suessenbach, das dürfen Sie nicht wieder tun, so gut Sie es auch meinen, denn diese Leute, die nehmen keine Rücksicht, und letzten Endes werden Sie noch als Feind des Vaterlandes hingestellt. Das sind eben keine Männer wie Ihr Mann und mein Mann, sondern das sind Feiglinge.”
Traurige Zeiten, wenn Frauen die verhassten Mitteilungen bekamen, daß das Kommando der Wehrmacht bedauert, daß ihr Mann gefallen oder vermisst ist. Im Hof war Frau Kilian die Erste, die solch ein Telegramm erhielt, und da gab es Tränen und Trauer und noch mehr Tränen. Das „vermisst“ verstand ich nicht, denn ich wußte, was Mist war; da hatte ja der Schweinebauer einen Riesenhaufen davon. Ich dachte, daß ein Soldat vielleicht in ’ne Mistgrube gefallen war, und warum das tragisch ist, kapierte ich nicht. Ich glaubte, daß ich sogar aus ’ner Mistgrube rausklettern konnte. Das war aber so die Zeit, wo ich meine Mädels nicht nach allem fragte, denn da gab es zu oft Gelächter. Wir hörten, daß die Front immer näher kam. Die Front? Da hatte ich auch wieder keine Ahnung, wie das war mit der Front. Ich wußte, daß es Krieg gab mit Schießerei und Verwundung und Sterben, aber wie kann das alles auf uns zukommen, näher kommen? Ich war aber bereit für die Front. Wenn das Ding zu uns nach Reichenbach kommt, dann zeige ich meinen Mädels, wie man am Lindenbaum hochklettert und es sich dann in der großen Gabelung bequem macht, wie ich es so oft schon getan hatte. Na, und dann können wir das Frontding von da oben betrachten. Dann kamen die ersten Militär- und Flüchtlingskolonnen an unserem Hof vorbeigezogen. Wir haben da stundenlang am Zaun gesessen und geguckt und gestaunt. Truppen marschierten; manche lagen auf Lastautos oder Pferdewagen; manche kamen auf Motorrädern, und dann wieder mehr Marschkolonnen, aber die sahen müde aus. Manche waren auch verbunden. Die Frauen wußten, daß es nicht sehr gut aussah mit dem Krieg, obwohl Goebbels von früh bis abends – wurde mir gesagt – gepredigt hat, wie sicher wir waren, denn der Führer hatte einen Meisterplan, die zweite Front – und das bedeutet das siegreiche Ende. Was der geheime Plan und die geheime Waffe waren, darüber wurde viel gemunkelt. Das Radio wurde heimlich die Goebbelsschnauze genannt, denn der hatte eben eine endlos große Klappe. Endlich erzählte ich meinen Mädls von meinem Rettungsplan auf dem Baum. Sie guckten sich zwar an, lachten aber nicht, und darüber war ich ganz schön stolz. Die Roten Horden konnte ich mir nicht vorstellen. Warum sich rot anmalen? Aber wie gesagt, ich hatte meinen Plan, und das gefiel mir recht. Wenn immer ich Schuberts „Am Brunnen vor dem Tore“ höre, sehe ich ihn immer noch vor mir, unseren treuen Baum im Hofe. Wer weiß, ob er noch steht. Eines Tages sind wir alle zum Ring gelaufen zu ’ner großen Militärparade. Das war klasse, mit lauter Blaskapelle und Parademarsch. Dann kam eine kleine Gruppe vorbei, wo ein Soldat nicht mithalten konnte. Er war hinterhergehumpelt und fiel immer weiter zurück, und die Soldaten in der letzten Reihe, die haben sich umgedreht nach ihm, haben ihm zugewunken, aber der kam nicht mit, und das hat mich so traurig gestimmt, daß ich anfing zu heulen. Muttl hat mich an sich gedrückt und getröstet, daß am Ende seine Kameraden schon auf ihn warten werden. Da stand eine Bühne, worauf ein Offizier in schwarzer Uniform predigte, daß der Krieg bald zu Ende ist, denn die zweite Front ist beinahe fertig, und daraufhin wurde geklatscht und gejubelt. Aber plötzlich wurde ich weggerissen von meinen Mädels, und wir rannten wie die Hasen, so daß mir bange wurde. Hinterher erfuhr ich, dass drei junge Soldaten erhängt wurden, weil sie Deserteure waren, Feiglinge.
Ja, da kamen meine Mäedels nicht hoch,
denn das war eben Männersache
Ich verstand das überhaupt nicht, aber Renate hat mir so was immer bissel deutlicher erklärt als die anderen. Ich konnte nicht glauben, daß Deutsche ihre eigenen Soldaten töten können, weil die keine Lust mehr hatten zu kämpfen. Dann kamen die ersten Bomben. Kaum heulten die Sirenen, rannten wir in den Keller und saßen still. Die Frauen beteten. Aber auf einmal fing’s an, lautlos in meinen Ohren zu drücken, aber wie. Junge, Junge, das war gruselig. Am Ende hörte ich gar nichts mehr. Immer nur Wellen von Druck in den Ohren, und den fühlte ich, obwohl