Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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zwar sei Bertel nicht nur eine Kurzform von Berthold, sondern auch von Albert, insofern unterschieden sich die beiden Namen nicht sehr voneinander, aber das träfe ja auch für diese beiden Buben zu, die doch kaum auseinanderzuhalten seien.

      In der Tat waren die beiden Säuglinge schon häufig von der Kinderfrau und gelegentlich sogar von der Mutter verwechselt und so sicherlich schon mehrmals vertauscht worden, bis der Vater, der nichts höher schätzte als eine verlässliche Ordnung, ein Machtwort sprach und die inzwischen an den Handgelenken angebrachten verschiedenfarbenen Wollfäden kurzerhand abschnitt und einen der beiden Buben, dem fortan der Name Albert endgültig zugeordnet wurde, von einer robusten Femme Tatoueur in Colmar unverwechselbar kennzeichnen ließ, indem er sie anwies, an der Innenseite des rechten Oberarms ganz klein ein ‚A‘ für ‚Albert‘ anzubringen. Doch bei einer derartigen Ähnlichkeit, die schon einer völligen Gleichheit nahekam, konnte es, obwohl sachlich ausreichend, nicht bei der Markierung von nur einem der beiden Knaben bleiben. Bertel habe sogleich unüberhörbar aufgemuckt, hatte Vater Castan später immer wieder einmal erzählt, und obwohl Bertel mit seiner Unmutsäußerung einen anderen Grund gehabt haben mochte, hatte der Vater damals sogleich erkannt, dass selbstverständlich beide strikt gleichbehandelt werden mussten, und so hatte Bertel nur Minuten später ebenfalls seine Tätowierung, ein ‚B‘ für ‚Bertel‘, erhalten. Das kleine Aufmucken Bertels, das dazu führte, dass auch er tätowiert worden ist, wäre eine kaum berichtenswerte Belanglosigkeit geblieben, hätte es nicht letzten Endes, fast fünfzig Jahre später, Bertel das Leben gekostet. –

      Einige Jahre nach dem Krieg ist man bei Aufräum- und Umbettungsarbeiten am Hartmannsweilerkopf auf eine gut erhaltene Erkennungsmarke gestoßen, die, wie sich rasch ermitteln ließ, die Erkennungsmarke von Albert Castan war. Erst damit konnte behördlicherseits die endgültige Tot-Erklärung erfolgen. Als dann Bertel, der bis dahin noch immer auf die Heimkehr Alberts gehofft hatte, die endgültige Nachricht vom Tod seines Zwillingsbruders durch einen Bediensteten der Mairie überbracht wurde, da hatte er, so erzählte man es sich in der Familie, ohne eine erkennbare Regung starr geradeaus geblickt, am Überbringer vorbei, mit dem gleichen leichten Lächeln, mit dem er den Boten empfangen hatte, so als habe er nichts verstanden, ja nicht einmal etwas gehört, und er behielt diese erstarrte Haltung auch noch bei, als der Überbringer mit seinen unbeholfen zurechtgelegten Sätzen längst zu Ende gekommen war. Der freilich hatte mit irgendeiner Antwort gerechnet, mit irgendeiner Äußerung wenigstens, man würde dann schon weitersehen, was noch zu sagen sei, und ein Wort würde das andere ergeben, und er würde sich dann bald wieder verabschieden, denn so gut kannte er den Herrn Castan ja nicht.

      So aber hielt Bertel Castan die Zeit einfach an, indem er schwieg und geradeaus starrte. Mit jeder Sekunde der Erstarrung wurde es schwerer, das Schweigen aufzubrechen. Onkel Bertel, soviel war Eugen Saller klar, wenn er jetzt über diese angespannte Situation, von der ihm der Dorfbüttel erzählt hatte, so nachdachte, Onkel Bertel musste schon damals als ziemliche Respektsperson im Dorf gegolten haben. Das war gewiss auch dem Büttel gegenwärtig, der wie alle Hilfskräfte in einer untergeordneten Position, die sie über viele Jahre hinweg haben halten können, ein feines Gefühl dafür herausgebildet hatte, mit wie viel Respekt, Vorsicht und Zurückhaltung man einer Person, mit der man dienstlich zu tun hatte, begegnen musste, aber auch wie viel Mitgefühl oder Zustimmung oder Herzlichkeit ihr gegenüber aufzubringen schicklich war. Darum konnte er als ein gewöhnlicher Gemeindediener dem Herrn Castan jetzt doch nicht einfach ins Wort fallen – wiewohl dieser ja bis jetzt noch nicht ein Wort gesprochen hatte.

      Wie beredsam war Bertel Castan doch gewesen, als er aus Chicago zurückgekommen war! Dort hatte er, jüngstes Mitglied einer Regierungskommission der Franzosen, die industrielle Fleischproduktion der Amerikaner studieren sollen, die der handwerklichen Metzgerei hierzulande – unhygienisch und mittelalterlich (‚plein de microbes et absolument moyenâgeux‘), wie er immer wieder betont hat – weit voraus war.

      Bald danach hatte er den ehrenvollen Auftrag erhalten, einen vollmechanisierten Schlachthof nach amerikanischem Vorbild in Paris zu entwerfen. Eugen erinnerte sich noch an die Postkarten mit dem Eiffelturm drauf, die Onkel Bertel an Mutter geschrieben hatte. Der Schlachthof ist später zu einem Treffpunkt europäischer Schlachthofdirektoren geworden.

      In einem modernen Schlachthof amerikanischer Art hatte Bertel Castan vor allem die Weiterverarbeitung in ihrer Sauberkeit und in ihrer Präzision fasziniert und die klare Vorhersehbarkeit der Abläufe, er hatte das leise Tak-tak-tak-tak der Gliederketten im Ohr, von denen die Tiere, in gleichen Abständen aufgereiht, herabhingen und sekundengenau zu den einzelnen Stationen transportiert wurden.

      Umso mehr hatte er das Chaos, den Schmutz und das Blut auf den Schlachtfeldern gehasst, die Zufälligkeiten, die unvorhergesehenen Rückschläge und unverhofften plötzlichen Durchbrüche und den ungewissen Ausgang; wobei in den meisten Schlachten ja beide Seiten verloren – Bataillone, Geschütze, Schiffe, Flugzeuge –, die einen ein paar mehr, die anderen ein paar weniger, die hielten sich dann für die Sieger.

      Schließlich hatte der unglückliche Überbringer der Todesnachricht dann doch noch seinen Mund aufgebracht, nur um etwas zu sagen, nur um der Stille zu entkommen, denn irgendwie musste das Gespräch weitergehen, irgendwie musste er herausfinden aus dieser Folter, die unerträglich war, obwohl sie aus nichts anderem als aus Schweigen bestand, und er stammelte, als ob das ein Trost sei für Bertel: „Es war in der letzten Schlacht am Hartmannsweillerkopf –“

      Da fuhr Bertel hoch: „– geschlagen von Dilettanten, deren einzige Qualität die einfallslose Zähigkeit war, die sture Verbissenheit, sonst nichts, nichts! Reine Schlachtfelddirektoren und Tötungsingenieure, aber stümperhafte, die den Tod des einzelnen dem Zufall überließen!“

      Der Tod des einzelnen, das erschien dem Büttel zu wenig tröstlich für Herrn Castan und wie zur Ergänzung fügte er an: „Über dreißigtausend Tote allein auf französischer Seite!“, damit Herr Castan sähe, wie wenig er allein war in seiner Trauer.

      Um sich eine Vorstellung zu verschaffen, fing Bertel, in alter Gewohnheit und ohne es eigentlich zu wollen, damit an, im Kopf das Schlachtgewicht zu überschlagen und murmelte: „Das sind an die 2000 Tonnen Soldaten –“, und als ihn der Büttel bestürzt anblickte, da brüllte es aus ihm heraus: „Hab’ ich denn das grausige Wort Schlacht erfunden? Da sagst du nichts –“

      Die heftigen Worte seien unvermittelt in ein ebenso lautes Schluchzen übergegangen, aber schon nach wenigen Augenblicken habe sich Bertel Castan wieder in der Hand gehabt. –

      Ein Geräusch, nah hinter ihm, ließ Eugen Saller aufschrecken. Das musste Le Chef sein, der immer sehr früh aufstand, lange vor dem Wecken und meistens mit Gepolter. Da rief er ihn auch schon, stimmlos, weil noch alles schlief, und dennoch laut:

      „Öschänn, Öschänn! Chumm schnall!“

      „Buschur“, brummte Eugen und dachte, der bellt sogar dann noch wie ein Preuß, wenn er flüstert, und ging mit dem Chef ins Haus, wo sie im Schlafraum alle dicht nebeneinander lagen.

      „Hör’ dir das an, Öschän“, kicherte Le Chef vergnügt, „die schnarchen wieder alle im gleichen Takt!“

      Tatsächlich, so war es – nicht zu glauben! Eugen lauschte, ob sich nicht wenigstens ein einziger Abweichler fände, vergebens. Doch Serges Schnarchen schien ihm derart übertrieben – er setzte die Pausen nach dem Ausatmen so überdeutlich und variierte die Übergänge so kunstvoll –, dass Eugen im Halbdunkel leise zu Le Chef hinüberfragte: „Ob die Quatsch machen? Die wollen uns verarschen“, wobei ihm im selben Augenblick aufging, dass es vielleicht etwas dreist war dem Chef gegenüber, von ‚uns‘ zu sprechen, zumal ihm Zweifel kamen, ob nicht Le Chef selbst mit dahinterstecken könnte. Nichts fürchtete er mehr, als ausgelacht zu werden.

      „Nein, nein“, rief Le Chef, nun überzeugend laut, „das gibt’s immer wieder mal, wahrscheinlich sogar ein paar Mal jede Nacht, nur hört es dann halt niemand.“

      Wenn ich das daheim erzähle, das glaubt mir keiner, dachte Eugen.

      „Bass uff, Öschän, ich studier’ das schon lang. Jeder ist mit jedem verbunden, mit dem einen enger, mit dem anderen nicht so fest. Jeder hört