Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
Скачать книгу
Regen einmal nachließ, die Camions mit hochtourigem Wimmern sich die Straße heraufwinden, um Material für den Bau weiterer Bunker heranzuschaffen. Die Maginot-Linie war noch voller Lücken und schwächer als ihr Ruf, wenn man einmal absah von den unterirdischen Forts wie Simserhof südlich Pirmasens oder dem gewaltigen Fort Hackenberg in der Gegend von Thionville – das waren ganze Städte unter der Erde. Der gesamte Gürtel sollte ohne Aufsehen verstärkt werden und mehr Staffelung in die Tiefe erhalten, vor allem hier im südlichen Teil, wo man sich bisher doch eher auf den Rhein verlassen hatte.1

      Die Tage waren düster, die Hütte verschwamm in den Wolken; im Aufenthaltsraum, der zugleich Schlafraum war, brannte schon früh am Abend ein trübes Licht. Gestern Nacht aber, als die Wolken plötzlich aufrissen und der Mond kalt und mit grellem Licht hervorbrach, da sah er zum ersten Mal den Hartmannsweilerkopf. Der war ganz nah, mit einem riesigen Kreuz an der höchsten Stelle, das aber so blass und fahl war, dass es fast verschwand. Dafür warf es im Mondlicht einen harten Schatten in den Altschnee auf dem Gipfel, der viel schärfer und schwärzer war als das Kreuz selbst. Er starrte auf das Schneefeld, lange, ohne Wimpernschlag. Wie umgestürzt und zerschmettert lag das schwarze Kreuz auf dem Schnee, kein schönes Bild. Schief und in die Länge gezogen, wellig und gezackt hing es kopfüber talwärts, als krieche es auf ihn zu.

      Das war ihm schon als Kind aufgefallen, dass die Abbilder von den Dingen manchmal eindringlicher sein konnten als die Dinge selbst. Und hier war beides, Ding und Abbild, gleichzeitig zu sehen. Er blickte weg vom gnadenlos gezackten Schatten und empor am fahlen Kreuz, das ihm in seiner Ruhe gnädiger erschien und das im dunklen Nachthimmel vergehen wollte.

      Dann hatte er mal hinter die Hütte treten müssen, und da hat es ihn überrascht, dass auch sein Strahl, obwohl doch durchsichtig und im Mondlicht fast unsichtbar, einen kräftigen Schatten auf den Restschnee warf, auf dem er stand, und wieder war das Abbild viel stärker als seine Ursache.

      Mit einem Mal verlor der Schatten des Kreuzes seine unerbittliche Härte, wurde schwächlich und verschwand schließlich ebenso plötzlich wie der Mond. Das Kreuz selbst dagegen, obwohl kaum mehr sichtbar und nur noch zu ahnen, stand unverrückt. So wird es wohl immer stehen, dachte er, Jahr für Jahr, auch wenn niemand mehr nach ihm schauen würde, und auch dann noch, wer weiß, wenn es in Dunkelheit und Not verschwunden war.

      Die grelle Mondnacht mit dem schwarzen Himmel, so kurz sie sich auch nur gezeigt hatte, schien ihm heller als der trübe Tag davor. Doch dann merkte er auf, war das, was er gesehen hatte, war das wieder eines dieser Zeichen? Ein Zeichen, das nur er sieht, das aber allen galt? Solche Zeichen waren ihm hin und wieder begegnet, und er war dann meistens ausgelacht worden. Er spürte, dass es nicht gut war für ihn, nachts allein auf Wache zu sein. Nur ein Zeichen konnte so eindringlich werden. Aber er verstand es nicht, so sehr er auch darüber nachdachte. –

      Er war der Jüngste in der Gruppe. Serge, ein ungeschlachter Kerl, der früher zur See gefahren war, hatte ihn Moses getauft. So würden die Schiffsjungen heißen an Bord. Die anderen hatten das schnell übernommen, kaum einmal sagte noch einer Eugen zu ihm, höchstens Le Chef, der ihn ‚Öschähn‘ nannte oder ‚Öschänn‘, wenn er ihn rief. Ihm war das so unrecht nicht. Seit sie ihn Moses nannten, gehörte er dazu. Die meisten kannten sich von einem geheimnisvollen Algerieneinsatz, so viel hatte er herausgefunden. Wenn man der Jüngste ist, viel jünger als alle anderen, bekommt man nicht alle Antworten. Er hätte halt schon gern gewusst, warum Le Chef sonntags nicht mehr mit in die Kirche ging. Vielleicht dürfte er schon, aber er will wahrscheinlich nicht, weil er nicht mehr zur Kommunion gehen darf, wie zu hören war, und das sei halt jetzt so mit der Action française, aber eines Tages, da würde sie von allen verstanden werden.

      Morgen oder übermorgen sollte es nachts hinunter nach Mulhouse gehen wegen irgendwelcher Plakate oder Spruchbänder, die dort hingen. Warum nachts? ‚Sauvez la rasse!‘ – ‚Rettet die Rasse!‘ – stünde darauf, das war wegen der Schwarzen oder der Juden, dachte er sich, aber keiner sagte, was mit den Plakaten geschehen soll, und mit direktem Nachfragen, ob abreißen oder weitere ankleben, hätte er sich arg blamieren können, das spürte er, und ausgelacht werden war die schlimmste aller Strafen. Moses zu sein, das war ein hartes Brot. Einige allerdings nahmen ihn in Schutz, das tat wohl. Aber der Hundewache, der lästigsten von allen, entging er nicht, und da geschah es dann oft, dass er ins Träumen geriet und arges Heimweh bekam. Hundewache, so hieß die letzte Wache in der Nacht, so wie heute, die nächste ging dann schon in den frühen Morgen über, das war dann bloß noch ein früheres Aufstehen, mehr nicht. Vielleicht würde er sich nachher noch einmal hinlegen können, aber an rechtes Schlafen war dann nicht mehr zu denken.

      Serge schnarchte wie immer, lauter als alle anderen. Wenn Serge am Abend nach einer Weile mit dem Schnarchen einsetzte, und es blieb ruhig im Schlafraum, dann konnte er sicher sein, dass alle eingeschlafen waren. Fing Serge zu früh mit dem Schnarchen an, schon bevor alle schliefen, dann begannen die noch Wachgebliebenen sofort mit einem gleichmäßigen Pfeifen, und siehe da, es half. Serge hörte auf zu schnarchen, beileibe nicht für die ganze Nacht, aber gewöhnlich doch so lange, bis auch der letzte der Pfeifer eingeschlafen war, der dann alsbald selber mit in das allgemeine Schnarchkonzert einzufallen pflegte, das sich da unter Serges Leitung entwickelte.

      Serges Lautstärken waren beträchtlich, über Stunden hinweg, und nur kurz für einige Atemzüge unterbrochen, wenn er sich einmal umdrehte. Dass der das überhaupt aushielt! Und dass die anderen von diesem Lärm nicht aufwachten? – Aber das waren Schlafgeräusche, und Schlafgeräusche sind harmlos seit alters her, während diese Pfeiftöne eben keine Schlafgeräusche waren und darum Serges Aufmerksamkeit selbst im Schlaf mindestens soweit erregten, dass er aufzuwachen begann; ein bisschen zwar nur, aber immerhin so viel, dass er, natürlich immer noch schlafend, das Schnarchen vorsichtshalber für ein Weilchen einstellte, bis ihm die allgemeine Sicherheit wieder auszureichen schien.

      Sogar vor der Hütte war das Schnarchen noch zu hören. Er träumte hinüber zum Hartmannsweilerkopf, dem Schicksalsberg der Elsässer, der wieder ganz in den Wolken verschwunden war. Da ist damals, bald nach Kriegsausbruch, ein General mit sich selber zu Rate gegangen und hat beschlossen – aus eigener Machtvollkommenheit so einfach für sich beschlossen –, dass der Hartmannsweilerkopf ein strategisch wichtiger Punkt sei (was freilich spätere Militärhistoriker bezweifelten), und besetzte die Kuppe mit allem, was er auch nur irgendwie zur Verfügung hatte. Dabei hätte man es belassen sollen, und alles wäre gut gewesen.

      Aber des einen Tat war des anderen Vorbild. Der andere, das war der Amtsbruder des Generals auf der Gegenseite, und obwohl grimmige Feinde, aber eben doch Brüder im Geiste, gelangten die beiden in wundersamer Übereinstimmung zum gleichen Ergebnis: Der andere General hielt den Hartmannsweilerkopf für einen mindestens ebenso wichtigen strategischen Punkt und griff seinerseits mit allen Kräften an, die er aufbieten konnte. Je verbissener der eine festhielt, desto mehr sah sich der andere in seiner Einschätzung bestätigt und desto wilder schlug er drauf; und je heftiger der andere anstürmte, desto besinnungsloser hielt der eine fest. Das ist das Grundschema aller Schlachten, von denen es heißt, sie seien erbittert gewesen, wenn es sich nicht gerade um Kesselschlachten handelt.

      So zog sich das fast die ganzen vier Jahre des Krieges hin. Am Schluss waren dreißigtausend Franzosen tot, und Onkel Albert vermisst, und vielleicht sechzigtausend Soldaten im Ganzen, da war er sich, wie er da vor sich hinträumte, nicht so ganz sicher. In der Schule hatte man mehr von den Franzosen gesprochen, aber er wusste, zwar sind von unseren Leuten aus Munster damals die meisten von den Deutschen gleich an die Ostfront gesteckt worden, weil man ihnen gegen die Franzosen eben doch nicht so recht getraut hat, aber hier am Hartmannsweilerkopf mussten auf beiden Seiten welche von uns mit dabei gewesen sein, denn schon vor dem Krieg waren ein paar aus Munster auf die französische Seite geraten, Gott weiß wie, und eigentlich war es egal, auf welcher Seite es Onkel Albert erwischt hatte. –

      Richard Castan, der Vater von Albert und Bertel Castan, war etliche Jahre vor der Jahrhundertwende von den Deutschen als höherer Verwaltungsbeamter von Kassel nach Straßburg versetzt worden. Er heiratete, obwohl Protestant, eine Elsässerin und wollte die alsbald geborenen Zwillinge aus einer kameralistischen Ordnungsmarotte heraus Albert und Bertal (Al-bert und Bert-al) taufen lassen, wobei aber ‚Bertal‘ mit ‚a‘ bei der Eintragung ins Kirchenbuch beim Pfarrer auf