Organisationssystem und Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, wie wir sie heute vorfinden, sind nicht zu verstehen ohne ihre geschichtliche Basis und ohne die konzeptionellen Leitlinien, die sowohl jeweilige gesellschaftliche Anforderungen und deren Dynamik als auch deren Verarbeitung in professionsinternen Debatten widerspiegeln. Insofern bedarf es zum Verständnis heutiger Kinder- und Jugendhilfe einer kurzen Darstellung des ›Geworden-Seins‹ dieses Institutionensystems (
Kap. 1) und einer Erläuterung der zentralen Leitorientierungen und Leitkonzepte, die die Vielfalt der Konzeptionen in den Handlungsfeldern rahmen und die aktuell für die Legitimation von handlungsfeldorientierten Konzeptionen eine erhebliche Bedeutung haben ( Kap. 2). Eine Einführung in die Kinder- und Jugendhilfe würde ferner ihren orientierenden Anspruch nur unzureichend einlösen, wenn darin nicht die tätigen und für alle sichtbaren Träger (öffentliche, freie gemeinnützige und freie gewerbliche Träger) und deren Verhältnisse zueinander angesprochen und erläutert würden ( Kap. 3). In den »Trägern« und in deren Bezügen zueinander konkretisieren sich diejenigen formalrechtlichen und trägerpolitischen Konstellationen, innerhalb derer die »Organisation« als Rahmung professionellen Handelns ( Kap. 4.2) wirkt.In Kapitel 5 wird der im vierten Kapitel dargestellte allgemeine Rahmen professionellen Handelns in die verschiedenen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe ›übersetzt‹ und für diese konkretisiert. Dabei werden sowohl tradierte, innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe herausgebildete und im SGB VIII benannte Handlungsfelder (z. B. Kinder- und Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung, Kindertageseinrichtungen) als auch solche einbezogen, die sich im Schnittbereich zu anderen institutionellen Kontexten bewegen (z. B. Schulsozialarbeit). Bei der Darstellung der Handlungsfelder werden jeweils Aufgaben bzw. die sozialpädagogische Funktion des Handlungsfeldes, spezifische Anforderungen an professionelles Handeln der Fachkräfte und Entwicklungsperspektiven des Handlungsfeldes erläutert. Ferner werden die für jedes Handlungsfeld zentralen Spannungsfelder markiert, mit deren Bewältigung die Organisationen und die Fachkräfte in ihrem Handeln konfrontiert sind. Denn – so die These – die Anforderungen in einem Handlungsfeld sind i. d. R. nicht einlinig und gut miteinander kompatibel, sondern Professionalität in der Kinder- und Jugendhilfe erweist sich vielfach gerade darin, widersprüchliche und in Spannung zueinanderstehende Anforderungen wahrzunehmen und diese balancierend zu handhaben (
Kap. 5).Kapitel 6 widmet sich abschließend den Entwicklungsperspektiven. Vielfältige Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe sind zu beobachten. Einige, in unserer Beobachtung besonders augenfällige und für die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe besonders bedeutsame haben wir in diesem Kapitel gekennzeichnet: zum einen Herausforderungen, die wir für bedeutsam erachten im Hinblick auf die Herausbildung und Weiterentwicklung von Professionalität als Grundlage einer fachlich tragfähigen Kinder- und Jugendhilfe, zum anderen einige thematische Herausforderungen, mit denen aktuell und voraussichtlich künftig Organisationen und Fachkräfte in mehreren Handlungsfeldern konfrontiert sind oder sein werden (
Kap. 6). Mit diesem abschließenden Kapitel spannt sich ein Bogen zurück zu den Ausführungen in Kapitel 1: Kinder- und Jugendhilfe erscheint als historisch geworden, als in einem gesellschaftlichen Kontext stehender Institutionsbereich mit einer dynamischen Entwicklung, die von den Akteurinnen und Akteuren beobachtet, bewertet und verarbeitet werden muss. Ob und wie dies gelingt, macht einen Teil der Professionalität in der Kinder- und Jugendhilfe aus.Die Argumentationslogik des Buches eröffnet zwei unterschiedliche Lese-Optionen. Interessierte Leserinnen bzw. Leser können mit der Lektüre des Kapitel 4, der Kennzeichnung zum professionellen Handeln, beginnen und sich dann die historischen Hintergründe, konzeptionellen Orientierungen und trägerbezogenen Aspekte erschließen. Aber auch der andere Weg ist sinnvoll: sich zunächst mit den historischen, konzeptionellen und trägerpolitischen Rahmungen zu beschäftigen und mit diesem Vorwissen an die Frage der Professionalität heranzugehen.
Mit dem Abschlusskapitel verbinden wir einen Appell an die Leserinnen und Leser: die Entwicklungen im gesellschaftlichen Umfeld und in der Kinder- und Jugendhilfe wach zu beobachten, diese zu interpretieren und daraus Schlussfolgerungen für eine Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Professionalität zu ziehen. Wir haben die Hoffnung, dass wir mit unserem Buch einige Kategorien und Zusammenhänge markieren können, um Beobachtungen zu schärfen und Interpretationen zu ermöglichen. Wir können dies nur hoffen, die Entscheidung darüber treffen letztlich die Leserinnen und Leser und diejenigen, die unsere Ausführungen vielleicht – so unser Wunsch – für Zwecke der Ausbildung und Fortbildung verwenden.
Prof. Dr. Peter Hansbauer, Prof. Dr. Joachim Merchel und Prof. Dr. Reinhold Schone
Inhalt
4 1.1 Erste organisatorische Differenzierungen – Fürsorge im ausgehenden Mittelalter (bis ca. 1500)
6 1.3 Kommunale und private Kinderfürsorge unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung (1650–1820)
7 1.4 Staatlicher Rückzug aus der Fürsorge und private Rettungshausbewegung (1820–1870)
8 1.5 Das System der Kinder- und Jugendhilfe formiert sich (1870–1915)
9 1.5.1 Das Wiedererstarken öffentlicher Fürsorge