Staatsmann im Sturm. Hanspeter Born. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanspeter Born
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907146866
Скачать книгу
dass die massive Überlegenheit der deutschen Truppen und nicht Verrat einer fünften Kolonne Hitlers Erfolg in Norwegen ermöglichte.

      Köcher berichtet am 22. April dem Auswärtigen Amt über die vom Bundesrat und Armeekommando ausgegebenen Weisungen, deren Wortlaut «die ins tiefste gehende Erregung» widerspiegle, die das Land ergriffen habe. Im Verlaufe der militärischen Operationen sei man in der Schweiz zum Glauben gelangt, dass die beiden nordischen Länder «das Opfer einer abgefeimten unterirdischen Propaganda geworden seien»:

      Man fand es unverständlich, dass sich Dänemark, wenn auch unter Rechtsverwahrung, den deutschen Forderungen unterwarf, und noch unverständlicher, dass sich in Norwegen Männer gefunden hatten, die entgegen dem Willen des Volkes und der norwegischen Regierung zur Zusammenarbeit mit den Eindringlingen bereit waren. Der norwegische Major Quisling wurde hier zu einem Symbol für innere Zersetzung und Landesverrat. Die Folge davon war, dass man glaubte, sich auch im eigenen Haus umsehen zu müssen, ob sich derartige «Quislinge», wie man sagte, auch in der Schweiz fänden, die im gegebenen Augenblick bereit wären, mit dem Feind zusammenzuarbeiten.

      Köcher, der die Schweizer kennt, beschreibt die aufgekommene hysterische Stimmung so:

      Seit einigen Tagen wittert man in diesem Lande überall Spione und Landesverräter. Man verdächtigt die etwa 130 000 Mann starke reichsdeutsche Kolonie und geht soweit, vom Bundesrat die Amtsentsetzung aller Beamten und Offiziere zu fordern, die mit dem Grossdeutschen Reich sympathisieren oder mit ausländischen Frauen verheiratet sind. Man glaubt, das deutsche System durchschaut zu haben: Planmässige Zersetzung der Moral der neutralen Staaten, Schaffung von Unordnung durch Ausstreuen falscher Nachrichten, Erregung defaitistischer Geisteshaltung. Lediglich auf diesem Nährboden konnte die verderbliche Aussaat gedeihen, die der Eindringling nur zu ernten brauche, um mit brutaler Gewalt den Besitz des Landes an sich zu bringen.

      Die in Köchers Bericht erwähnten neuen Weisungen dienen vor allem zur Beruhigung des Volks. Die Leute sollen wissen, dass Bundesrat und General auf der Hut sind.

      24. Abkommen mit den Alliierten

      Die seit Kriegsbeginn dauernden, komplizierten und zähen Blockade-Verhandlungen mit den Westmächten waren Ende März so weit fortgeschritten, dass nur noch wenige überbrückbare Differenzen zu überwinden sind. Die Schweizer Unterhändlern brachten die Westmächte, die anfänglich allen Handel mit dem Feind unterbinden wollten, von ihrer starren Haltung ab. Die Handelsattachés Frankreichs und Grossbritanniens in Bern, welche die Verhandlungen führen, begreifen die Zwangslage der Schweiz und erkennen die Nutzen eines neutralen Staates mitten in Europa. Die Zentralen in London und in Paris, wo die einzelnen rivalisierenden Ministerien unterschiedliche Interessen vertreten, verzögerten jedoch den Abschluss eines Abkommens. Ungenügend informierte untere französische Instanzen bereiteten Schwierigkeiten, indem sie für die Schweiz bestimmte Waren beschlagnahmten. Energische Demarchen von Minister Stucki in Paris konnten jedoch viele bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumen.

      Haupttrumpf der Schweiz bei den Verhandlungen mit den Westmächten sind die Waffenlieferungen. Bereits am 6. September 1939 hatte der Bundesrat einen im April zuvor etwas eilfertig getroffenen Beschluss aufgehoben, der im Kriegsfall die Lieferung von Waffen, Munition und anderem Kriegsmaterial an Kriegsführende verbot. Er verfügte, «dass im Prinzip Kriegsmaterial an Deutschland ebenso wie an Frankreich geliefert werden kann». Die Aufhebung des Waffenembargos erfolgte damals auf Drängen der rüstungsmässig im Rückstand liegenden Westmächte. Grossbritannien und Frankreich wollten sich mit Fliegerabwehrgeschützen, Bombenzündern und anderem kriegswichtigem Gerät eindecken, das einzig, oder in bester Qualität, nur in der Schweiz erhältlich war. Der Bundesrat stützte sich bei seinem Entscheid, wieder Waffen an Kriegführende zu liefern, auf die Haager Konvention von 1907. Diese erklärt solche Lieferungen für mit der Neutralität vereinbar, sofern keine der Kriegsparteien bevorzugt wird.

      Noch im September platzierte Frankreich, das schon Ende 1938 bei der Maschinenfabrik Oerlikon 400 20-mm-Flabgeschütze bestellt hatte, Aufträge für 85 weitere. Grossbritannien bestellte sogar 1000 Geschütze, von denen bis im April 1940 immerhin 110 geliefert werden konnten.

      Anfänglich hatte sich das Militärdepartement gegen die Wünsche der Alliierten nach sofortiger Lieferung von Flabgeschützen gesträubt. Die eigene Armee benötigte sie selber dringend. Trotzdem lieferte die Schweiz in den ersten neun Monaten nach Ausbruch der Feindseligkeiten den Alliierten Kriegsmaterial im Wert von knapp 100 Millionen Franken. Deutschland, im Vergleich, bezog solches für weniger als eine halbe Million. Die Engländer drängten darauf, die für die Waffenfabrikation tätigen Arbeitskräfte vom Militärdienst zu beurlauben. Das Militärdepartement kam ihnen entgegen, da eine Produktionserhöhung auch im Interesse der Schweizer Armee lag. Die Waffenfabrik Oerlikon, die zu Beginn des Kriegs etwa 2000 Mitarbeiter beschäftigte, steigerte ihren Personalbestand innert Jahresfrist um beinahe das Doppelte.

      Die Grosszügigkeit des Bundesrats bei der Erteilung von Ausfuhrbewilligungen für das von den Alliierten bestellte Kriegsmaterial trug entscheidend dazu dabei, dass ihre Unterhändler ihrerseits für die schweizerischen Anliegen Verständnis zeigten.

      Am 25. April 1940 unterzeichnen Bundespräsident Pilet-Golaz und Minister Kelly in Bern, Premierminister Reynaud und Minister Stucki in Paris das sogenannte War Trade Agreement oder Blockadeabkommen. Der Vertrag gesteht der Schweiz grundsätzlich den Handelsverkehr nach allen Seiten zu, auch zu Deutschland, solange er nicht über den courant normal, der an der Aussenhandelsstatistik von 1938 gemessen wird, hinausgeht. Die Schweiz macht Scheinkonzessionen. So erklärt sie sich bereit, Waren wie Getreide, Kaffee, Tee, Kakaobohnen, Baumwolle, Wolle, Rohseide nicht zu exportieren, was sie normalerweise ohnehin nicht tat.

      Wichtig für die Schweiz ist, was nicht auf einer der im Abkommen aufgeführten Listen verbotener Exportwaren steht. Maschinen, Werkzeuge, Kugellager, Uhren, Aluminium, Pharmazeutika und Kriegsmaterial darf sie frei liefern. Gerade an solchen, oft kriegswichtigen Waren ist Deutschland, der grösste Kunde der Schweiz, interessiert. Die am meisten umstrittene Konzession, welche die Schweiz den Engländern machen musste, ist die Einräumung eines Kredits von 100 Millionen. Alt-Bundesrat Edmund Schulthess, jetzt Präsident der Eidgenössischen Bankenkommission, warnte Bundespräsident Pilet in einem Brief vom 4. April vor diesem Zugeständnis an England. Sein Argument: Deutschland könnte dann ähnliche Kreditforderungen stellen. Um das Abkommen zum Abschluss zu bringen, stimmt der Bundesrat gleichwohl dem Kredit zu.

      Für die Schweiz und ihre Neutralität ist entscheidend, dass die von den Blockademächten an den Warenimport und –Export geknüpften Bedingungen von einer rein schweizerischen staatlichen Stelle kontrolliert werden. Im Weltkrieg war dies anders gewesen. Damals mischten sich ausländische Funktionäre in die Überwachung des Aussenhandels ein.

      Das War Trade Agreement ist ein bemerkenswerter Erfolg für die Schweizer Handelsdiplomaten und den Bundesrat. Allerdings hängt man diesen nicht an die grosse Glocke. Eine dürre Mitteilung orientiert die Presse über den für beide Parteien befriedigenden Abschluss der «schwierigen Verhandlungen». Einzelheiten fehlen. Für den Aussenhandel herrscht Geheimhaltungspflicht. Immerhin sickert über das Verhandlungsergebnis so viel durch, dass die Neue Berner Zeitung zwei Wochen nach Vertragsunterzeichnung befriedigt schreibt:

      Auch wer nicht besonders in die Probleme der Ein- und Ausfuhr eingeweiht ist, musste sogleich merken, dass der Abschluss eines solchen Vertrags für unsere Volkswirtschaft von grösster Bedeutung ist, und unsere Unterhändler haben sich durch ihre erfolgreiche Arbeit um das ganze Volk verdient gemacht.

      Minister Kelly erklärt in einem Vortrag vor der britischen Handelskammer in der Schweiz:

      Ich bin glücklich festzustellen, dass der Vertrag, den ich im Auftrag meiner Regierung unterzeichnet habe, gegründet ist auf das absolute Vertrauen in den guten Willen der Regierung und des Schweizervolks und die Korrektheit der schweizerischen Ausführungsstellen.

      Die Diskretion, mit der die Unterzeichnung des Abkommens bekannt gegeben wird, ruht daher, dass der Bundesrat Berlin nicht aufschrecken will. Die Zeitungen schreiben nichts über die umfangreichen schweizerischen Waffenlieferungen an die Alliierten Allerdings bleiben diese