der Nachwuchs ins Leben treten soll. Im Gegensatz zu dieser Art des Lebens gibt es noch eine andere Sorte von Erdenbürgern; die
Halbweltler. Hierbei handelt es sich um Menschen, die teil- oder vollzeitig im Nachtleben, sprich im Milieu tätig sind. Es sind Menschen, die meist nie oder eher selten in ihrer Branche eine Ausbildung genossen haben und die auch nicht über den Businessplan eines
0815 Lebens verfügen. Es sind Menschen, die meist in den Tag hineinleben und ihre Ziele oft variieren lassen. Im Gegensatz zu den
Oberweltlern suchen sie den Kick, das Abenteuer, die Auffälligkeit und geniessen das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Klar treffen nicht alle diese Punkte auf jeden
Halbweltler zu, doch sind dies die oftmals in der Bevölkerung gängigen Klischees, mit denen man die Nachtmenschen beschreibt. Jeder Mensch entscheidet selbst, zu wem er gehören möchte, erkennt selbst, was ihm liegt und wo er sich sicher und geborgen fühlt. Jetzt wird der eine oder andere kritische Leser nicht ganz einverstanden sein und sofort an Zwangsprostitution oder Ausnutzung denken, doch dies sind Randthemen und Seltenheiten, genau wie die Manager- und Bankenskandale in der Oberwelt. Fakt ist jedoch, dass ein jeder die Wahl hat, zumindest hier in unserer Heimat der Schweiz, wie auch in unseren Nachbarstaaten. Jede Prostituierte könnte jederzeit ihren Beruf an den Nagel hängen und beispielsweise als Reinigungskraft arbeiten, müsste dabei allerdings einen verminderten Verdienst in Kauf nehmen. Aber auch dies liesse sich später wieder ausgleichen, zum Beispiel in der Selbstständigkeit mit eigenem Reinigungsunternehmen. Man muss dafür Kapital aufbringen, man muss sparen, muss lange unten durch, doch die Möglichkeit ist real. Schlussendlich ist alles eine Frage des Willens, der Zielsetzung und vor allem der Ausdauer. Auch einem Mann, der als Hilfsarbeiter auf dem Bau arbeitet, bleiben viele Chancen nicht vorenthalten. Zugegeben, dass er als Chef einer Grossbank endet, ist eher unwahrscheinlich, jedoch gäbe es auch hier genug realitätsnahe Ziele, die ihm zur Verfügung stehen. So kann auch er sparen, Investoren suchen, eine Zeit lang unten durch und schlussendlich ein Kleinunternehmen gründen. Rentiert es dann und ist erst einmal Kapital vorhanden, so kann er auch ungeniert den Sprung in eine neue Branche wagen, eine neue Herausforderung in Angriff nehmen. Oft gibt es daher auch Menschen, welche die eine Welt als Sprungbrett für die andere gebrauchen. Zum Beispiel eine Frau, die in der
Oberwelt als Putzfrau arbeitet, sich Ersparnisse zulegt und anschliessend in der
Halbwelt eine Bar oder ein Etablissement eröffnet. Oder ein Mann, der als Security arbeitet, sich Ersparnisse zulegt und damit eine Reinigungsfirma gründet. Die Sprungbretter können in eine Parallelwelt führen. Jedoch ist dies eher selten der Fall, da man oft in seiner gewohnten Welt bleibt. Fakt ist zudem, ob in der
0815er Welt oder im Nachtleben, es bleibt beiden Bewohnern der Welten nichts vorenthalten. Ein klarer Unterschied gibt es allerdings zwischen den Welten: die Geschwindigkeit um das Mögliche zu erreichen. So ist das schnelle Geld im Nachtleben simpler zu machen, zumal auch die Möglichkeiten zu nicht versteuertem Einkommen grösser sind als in der Oberwelt. Doch alles was schnell gehen soll, hat meist nur geringe Chancen und dementsprechend ist auch die Wahrscheinlichkeit eines geschäftlichen Untergangs, sprich einer Insolvenz, schneller und öfters erreicht, als sich manch einer je denken könnte. Daher ist es oft besser, sich auch in der Halbwelt Zeit zu lassen, wofür das altbewährte Sprichwort passt:
Gut Ding will Weile haben. Oft gibt es aber auch Menschen, welche sich nicht durch Insolvenz oder Misserfolge zu einem Weltenwechsel entscheiden, sondern durch alters- oder familienbedingte Gründe. Zum Beispiel ein Türsteher, der frisch Vater wurde und sich aus finanzieller und physischer Sicherheit für einen Job auf dem Bau entscheidet. Oft ist auch die Zeit ein Faktor, so könnte der Türsteher auch zeitlich bedingt, einen Wechsel tätigen, da er so die Abende gemeinsam mit seinen Kindern verbringen kann. Gerade bei Frauen ist die Zeit oft der Hauptgrund für einen Sprung in die Parallelwelt. Es gibt viele junge Mütter, die ihren Job als Lebensmittelverkäuferin aufgeben, sich als Barmaid bewerben, um den Tag mit ihrem Kleinkind verbringen zu können. Wird das Kind älter, kann auch oft ein Retourwechsel erfolgen. Sobald das Kind zur Schule geht und am Tag nicht zu Hause ist, wird oft die Option des erneuten Verkaufsjobs in Erwägung gezogen. Somit gibt es nicht nur definitive Sprünge in eine Welt, sondern auch zeitliche Weltenwechsler. Was allerdings eine Seltenheit ist, sind Menschen, die über eine längere Zeit oder gar stetig, in beiden Welten gleichzeitig tätig sind. Hier finde ich den Ankerpunkt, den Anfangspunkt für meine Geschichte, denn genau dieses Leben führte ich. Ich führte ein Leben in zwei Welten.
In der Oberwelt habe ich fünf Jahre lang im Aussendienst für renommierte Medienkonzerne der Schweiz gearbeitet, wo ich für den Inserateverkauf aber auch für Crossmedia-Verkäufe, sprich Radio- und Fernsehwerbung unterwegs war. Zudem trug ich längere Zeit die Verantwortung für den Immo-Tipp, ein Immobilien Beilagen Magazin der Neuen Oltner Zeitung. Durch meine Arbeit in der Oberwelt lernte ich immer wieder interessante Persönlichkeiten kennen und durfte unter anderem Prominente wie Christoph Blocher oder den Mundartrocker Gölä interviewen. In der Halbwelt war ich eine kurze Zeit als Türsteher tätig, danach als Geschäftsführer, zwischendurch besass ich gar ein eigenes Lokal, die Latino Bar Royale, mit dem ich mich deftig übernommen habe. Später habe ich wieder als Geschäftsführer eines Nachtbetriebs an der Langstrasse im Kreis 4 gearbeitet. Am 10. Februar 2012 ereignete sich in der Halbwelt ein dramatisches Ereignis, wobei ich infolge der medialen Spekulationen in den Augen der Bevölkerung, der Journalisten und der Justiz zu einem Unmenschen mutierte, was das Volk erboste, die Richter unter Druck setzte, die Verblendung ermöglichte und dem Desaster den Weg ebnete. Mein Wesen als Halbweltler wurde verzerrt, willkürlich falsch dargestellt und medial ausgeschlachtet, während man mein Leben in der Oberwelt parallel dazu beinahe komplett ausblendete. Ich wurde als Krimineller und Unmensch dargestellt und aus dem Menschen Sascha Michael Campi, der in der Oberwelt jahrelang seinen Verpflichtungen nachkam, wurde in den Verfahrensakten und Medienberichten so gut wie nur noch ein Halbweltler, ein Milieu-Mensch, zwischenzeitlich wurde ich gar als Todesfahrer, Amok-Fahrer, Vergewaltiger, Bandenmitglied und Milieugrösse bezeichnet.
Das Erwachen
Es war in den frühen Morgenstunden des 10. Februars im Jahre 2012, als ich unter Schmerzen die Augen öffnete und vor mir eine zertrümmerte Frontscheibe meines Chryslers M300 wahrnahm. Ich versuchte zu realisieren, was geschehen war. Ein Piepsgeräusch war in meinem Ohr, viele Stimmen um mich herum. Mein Kopf tat weh, mein Gesicht brannte und das Piepsgeräusch störte. Meine Augenlider schienen tonnenschwer und meine Sinne in Trance. Etwas berührte meine Haut. Ich spürte zwei kalte Finger an meinem Hals.
«Er lebt», sagte eine Stimme, worauf die zweite Stimme meinte: «Schade für ihn», was ich in diesem Moment nicht einordnen konnte.
Mir wurde wieder schwarz vor Augen und ich war weg. Als ich erneut die Augen öffnete, sah ich ein Licht. «Wo bin ich?», fragte ich mich. Die Erde schien zu beben. Ich versuchte mich zu bewegen, doch vergeblich. Ich versuchte zu atmen, es fiel mir schwer, denn etwas drückte auf meinen Hals. Ich realisierte, dass ich in einem Krankenwagen lag und angebunden war. Ich realisierte auch eine Halskrause an meinem Hals. Das einzige was ich nicht realisierte, war, was geschehen ist?
«Wie komme ich hierher? Was ist passiert? Wo bin ich?», flüsterte ich.
Da beugten sich zwei Personen über mich, es schienen Rettungssanitäter zu sein.
«Versuchen Sie ruhig zu bleiben, wir sind gleich im Spital», versuchte man mich zu beruhigen.
«Ich kann nicht atmen», beschwerte ich mich vergebens.
Es gab einen Ruck, der Notfallwagen kam zum Stillstand. Meine Bahre wurde angehoben und auf den Boden gestellt. Die Bahre kam in Bewegung. Ich versuchte mich zu drehen, aber ich bewegte mich keinen Millimeter.
«Bin ich gelähmt?», fragte ich mich innerlich.
Mein Herz raste, die Panik vergrösserte sich bei jedem Pulsschlag. Ich sah Lichter, viele Lichter über meinem Kopf. Es schien ein langer Gang zu sein, durch den man mich schob. Eine Lampe nach der anderen sauste über meinem Kopf vorbei. Mein Gesicht schmerzte. Ich schloss die Augen.
«Herr Campi, sie werden nun geröntgt», hörte ich nach einer Weile eine neue Stimme sagen.
Ich wurde in eine Röntgenröhre geschoben und es wurde dunkel. Ich solle