Als Neurophysiologe ist Wolf Singer der Meinung: Vorschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden. Stopp. Gleichzeitig räumt er ein, dass es die Gesellschaft in der Hand hat, diese Vorschaltungsmuster festzulegen. Das moralische Vorwissen hängt von der Gruppe, von der Bevölkerung ab, in dem sich der einzelne Mensch befindet. Von seinem Soziotop.
Die Gesellschaft darf nicht davon ablassen, sagt Singer, Verhalten zu bewerten, sie muss weiterhin versuchen, durch Erziehung, Belohnung und Sanktionen Entscheidungsprozesse derart zu beeinflussen, dass unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher werden. Allerdings – nach welchem Code findet die Prägung der sogenannten normalen Gesellschaft statt? Wer ist denn heute noch normal?
Zwar weiß man um die Wichtigkeit von Ethik und Moral, die konkrete Einforderung dieser Spielregeln wird aber rasch ironisiert.
Wenn unser Tun und Denken mit dem Ablauf neuronaler Prozesse zu erklären ist, die sich nach dem Muster einer ausgeglichenen Haushaltsbilanz selbst organisiert, dann kommt jenen Determinanten enorme Bedeutung zu, die diese ausgeglichene neuronale Haushaltsbilanz beeinflussen.
Schopenhauers ganz bestimmte Ahnung
Die großen Denker haben sich alle den Kopf zerbrochen. Arthur Schopenhauer wollte mit seiner Schrift über die Willensfreiheit beweisen, dass Charakter und Motiv unsere Handlungen restlos bestimmen.
Konsequenterweise müsste man fordern: Wer die Willensfreiheit bestreitet, muss im Grunde das Strafrecht abschaffen.
Schopenhauer hatte zwar die Idee, die Willensfreiheit zu verabschieden, eliminierte dabei aber nicht gleichzeitig Begriffe wie Schuld und Verantwortung. Er gab der königlichen norwegischen Gesellschaft der Wissenschaft auf ihre Frage: »Lässt die Freiheit des menschlichen Willens sich aus dem Selbstbewusstsein beweisen?« eine Antwort, die in der Schrift Über die Freiheit des menschlichen Geistes am 26. Januar 1839 preisgekrönt wurde (mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass Schopenhauer der Einzige war, der auf diese Frage geantwortet hatte).
Mit der Nüchternheit des Logikers und der Genauigkeit des Naturwissenschaftlers entwarf Schopenhauer ein Menschenbild, das für sittliche Autonomie keinen Raum mehr zu lassen schien. Und er wusste, welche Tragweite das hatte. Schopenhauer wollte den Menschen keine Ausnahmestelle in der Natur zuteilen – was ihm neben der pessimistischen Tendenz seiner Philosophie den Ruf als Menschenfeind eingetragen hat. Jede Tat erklärt er als unausbleibliches Ergebnis von Charakter und Motiven. Aus derselben Notwendigkeit heraus, mit der ein Stein aufgrund der Schwerkraft zu Boden fällt, handelt ein Mensch mit bestimmten charakterlichen Anlagen unter bestimmten Umständen. Er ist, wie er ist. Basta.
Die Resultate der Hirnforschung legen nahe, dass es zu jedem Handlungsentschluss, zu jedem Wollen eine physiologische Entsprechung gäbe, die durch Versuchsanordnungen im Gehirn sichtbar gemacht wird. Und das stimmt auch mit Schopenhauers Idee überein, dem Charakter müsse etwas Körperliches zugrunde liegen. Zorn braucht eine Faust.
Der US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet untersuchte das Gehirn und behauptete, es habe schon Sekunden vor einer Handlung eine unbewusste Entscheidung gefällt, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Sie offenbart sich also erst im Nachhinein und stand schon fest, bevor wir das gewusst haben. Das Hirn trickst uns aus. Du glaubst, du sitzt am Steuer, in Wahrheit lenkt schon lange der Autopilot.
Und das wird als weiteres Argument gegen die christliche Ethik verwendet: Wenn nämlich unsere Entscheidungen schon determiniert sind, dann fällt die gesamte Diskussion um Moral und Schuldfrage zusammen, und die europäische Geistesgeschichte hätte ein Hauptthema ihrer gedanklichen Reflexionen verloren.
Genau hier soll das Verständnis der christlichen Ethik erneuert werden. Denn selbst wenn Entscheidungen – im Augenblick förmlich unfrei – noch im Unbewussten festgelegt werden, so unterliegen andererseits diese Entscheidungen anderen Determinanten, die aus einem Vorwissen, aus einem Vorbewusstsein herrühren.
Das ist teilweise genetisch bestimmt, teilweise epigenetisch geformt. Prägephasen in entscheidenden Entwicklungsmomenten, Identifikationsprozesse mit Idolen, der Stallgeruch einer intakten Familie. Das macht jene Entscheidungshilfen aus, aus denen, wenn zunächst noch unbewusst, der einzelne Mensch seine Taten folgen lässt. Demnach gibt es Freiheit sehr wohl, nur geboren aus einem komplexeren Hintergrund.
Wäre es leicht, könnte man es sich ja aussuchen.
Das Gewissen und die Entscheidung
Die mechanistische Auffassung des freien Willens kann zu Grabe getragen werden. Ohne dass die christliche Ethik darunter leidet. Denn es ereignet sich noch ein weiteres Detail. Selbst wenn eine Entscheidung unbewusst gefällt worden ist und erst später in das Bewusstsein zurückschleicht, wird sie dann, beim Auftauchen, auf ihre Richtigkeit abgetastet. Wobei neben den Prägungen der Kindheit eine weitere Schicht Erkenntnis dazukommt: das Bewusstwerden der Tat.
Dieser Ich-war’s-Effekt kann mit anderen Bewusstseinsinhalten zusammenhängen und daraufhin einer Feineinstellung unterzogen werden. Denn der freie Wille ist so wie der genetische Code: nicht erratisch, nicht festgelegt für uns, nicht programmiert für immer, sondern einer kontinuierlichen Plastizität unterworfen. Anders ausgedrückt: Der freie Wille ist nicht in Stein gemeißelt.
Freiheit atmet.
Zwar wird das Gehirn in den Händen der Hirnforscher zum Sitz des Unbewussten, zur Dunkelkammer, die das vorbereitet, was der Mensch später als seine Tat erkennt. Allerdings wirkt diese Erkenntnis über die Dunkelkammer zurück und arbeitet an der nächsten, wenn auch unbewussten, Vorentscheidung mit. Damit wird der Charakter, den Schopenhauer noch als unveränderliche Größe benützt hat, veränderlich und dreidimensional; auch durch das Gewissen.
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