Die adaptive Evolutionstheorie wäre wert, weiterverfolgt zu werden, allerdings hat sie viele Gegner: Jeder, der diese Zufälligkeit der Evolution in Frage zu stellen versuchte, wurde in der Vergangenheit von der wissenschaftlichen Gemeinde dem Scheiterhaufen übergeben. Der prominenteste war der französische Botaniker Jean-Baptiste de Lamarck. Er formulierte noch vor Charles Darwin eine Evolutionstheorie, deren Hauptprinzip ist: Es gibt eine gerichtete Höherentwicklung von Organismen, die durch sogenannte wiederholte Urzeugung, also spontan, entstandenen sind. So bilden sich die einzelnen Klassen. Als Nebenprinzip nahm er die Vererbung erworbener Eigenschaften an, die zur Artenvielfalt führt.
Lamarck hatte einen Gedanken ins Spiel gebracht, der später in der Zeit des Kulturkampfes erst abgelehnt, dann aggressiv bekämpft wurde. Sein dreistes Vorpreschen hätte die reine Zufälligkeit der Evolution beschnitten. Trotz Gegenwindes vertrat er die Meinung, dass nicht alleine das Zufallsprinzip die Evolution steuert, sondern exogene Designerfaktoren für Richtung und Geschwindigkeit mitverantwortlich seien. Obwohl Lamarck ein äußerst verdienter und kundiger Naturwissenschaftler war, verzieh man ihm die Wortmeldung über eine »designte Evolution« nicht. Er wurde dem wissenschaftlichen Anathema übergeben, der Verfluchung, und das Wort »Lamarckismus« wurde zum Synonym für »Unwissenschaftlichkeit«.
Ein ähnliches Schicksal ereilte den Gelehrten Paul Kammerer aus Wien. Auch er vertrat die Meinung, dass die Evolution nicht nur würfle, sondern dass es Umweltdesigner gäbe, die für die Ausbildung von Phänotypen, Erscheinungsbilder in der Genetik, und damit für die Richtung der Evolution verantwortlich seien. Wenn man die neuen Aufarbeitungen des damaligen Skandals studiert, mutet der Fall wie eine kleine Dreyfuss-Affäre an, deren Hauptakteur, der französische Offizier Alfred Dreyfuss, einer Intrige und einem gehörigen Antisemitismus zum Opfer gefallen war. Die Zuhilfenahme von einfachen grafischen bildunterstützenden Maßnahmen wurde Kammerer als Fälschung vorgeworfen. Man überschüttete ihn mit Schmutz und Schmach, Schimpf und Schande.
Späte Unterstützung bekamen beide Herrschaften durch eine kürzlich publizierte Arbeit, die ein reproduktionsmedizinisches Phänomen näher untersuchte, nämlich die Abnahme der Spermienqualität. Dass das auch im Säugetierbereich stattfindet, weiß man seit Jahrzehnten, und immer wieder wird die Umweltbelastung als Grund dafür präsentiert. Jetzt ist es durchaus verständlich, dass freie Radikale, aber auch Xenosteroide die Spermatogenese schädigen können. Dass dieser Schaden zukünftigen Generationen weitergegeben wurde, war für die wissenschaftliche Welt nicht nur neu, sondern überraschend. Angeborene Eigenschaften galten bis dato nicht als im Genom verankert. Also doch kein Zufall?
In der Zwischenzeit scheint man sogar den Ort gefunden zu haben, wo die Umwelt »designtt« wird. In den Methyl – und Acetylresten des epigenetischen Codes. Das beweist immerhin eines: Was emotional und dogmatisch als »reiner Zufall« interpretiert wurde, dürfte viel hintergründiger sein. Die Evolution läuft nicht blind umher, sondern orientiert sich über die Epigenetik an einem vorgegebenen Design, das man im Environment findet. Lange bevor sie die entstandene Spezies dem Überlebenskampf überlässt.
Übrigens war auch Darwin von einer gerichteten Evolution überzeugt, zumal er den natürlichen Ausleseprozess weniger im Lichte des Überlebenskampfes, sondern mehr in Anlehnung an die fortlaufende Anpassung an die Umwelt zu erklären suchte. In seinem Grundsatzwerk Von der Abstammung des Menschen schreibt er über das Prinzip der Nachahmung, des Verstandes und der ständigen Modifizierung dieser intellektuellen Kräfte, ohne dass er sie nachweislich darstellen konnte.
In gewisser Weise war er auch Lamarckist.
Gesprengte Ketten, freier Wille: Was ist uns bestimmt?
Das antike Hellas war vom Schicksal geprägt und nicht vom Willen. Die sokratische Lehre, dass niemand mit Absicht Böses tue, war tief im griechischen Denken verwurzelt. Vorstellungen von einem guten freien Willen, der auch bei eingeschränktem Erkenntnisvermögen den Menschen davor bewahren könnte, moralisch schlecht zu handeln, gab es nicht.
Tatsächlich determinieren uns Physik und Biologie. Zwar ist, wie Voltaire es formulierte, Freiheit »das Vermögen, etwas zu tun, was man will«, aber »in keines Wesen Macht steht es zu wollen, was es will«, wie schon Leibniz gesagt hat.
Allerdings ist das Kohlenwasserstoff-System der belebten Welt mobiler als das des Diamanten. Weil es aufgrund eines thermodynamischen Segmentes einerseits die Bereitschaft, sich zu vergrößern und zu vermehren, besitzt, andererseits bemüht ist, das effizient vorzunehmen, sich immer wieder anzupassen an eine Umwelt, die letztendlich der Spiegel der biologischen Existenz ist. Dort gibt es Freiheit, in dem immerwährenden Versuch, sich erfolgreich zu reproduzieren. Das ist tatsächlich ein apartes liberum arbitrium, ein kleines Stück echten freien Willens.
Um ein schnelles Anpassungssystem zur Verfügung zu haben, entwickelten die höheren Säuger drei Prägephasen, in denen dieses liberum arbitrium ruht: die Schwangerschaft, die ersten fünf Lebensjahre und die Pubertät. In diesen biologischen Fenstern herrscht insofern Freiheit oder auch Zufall, da es unterschiedliche Prägedeterminanten gibt, die bis zu einem gewissen Grad gewählt werden können. Und es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf Stress und Belastung zu reagieren. Das Gehirn hat verschiedene Reaktionsoptionen, wenn das Testosteron oder andere Substanzen aus den Geschlechtsdrüsen den Hypothalamus oder den Cortex betreten, und letztendlich entscheidet sich in diesen Lebensphasen auch, mit wie viel Vertrauen man Geschäfte abwickelt, dem Ehepartner begegnet oder seinen Mitarbeitern entgegentritt. Das alles ist durch die Epigenetik formbar. Damit existiert ein Generator für Plastizität, und dadurch gibt es im System ein kleines Stück Freiheit – allerdings mit großen Folgen für später.
Unterstützt wird das alles durch die bereits erwähnten Spiegelneuronen. Durch sie lernen die Vögel das Singen und Fliegen: Wenn sie die Eltern dabei ansehen, werden in ihrem Gehirn die gleichen motorischen Neuronen aktiv, die bei den Eltern den Singakt bewirkten.
Ultraschallbilder zeigten bei Menschen Ähnliches: Singt die schwangere Mutter, dann formieren sich mitunter die Lippen des Kindes in der Gebärmutter, als wolle es mitsingen. Diese sonografischen Bilder gingen um die Welt.
Nun gibt es Menschen mit unterschiedlichen Spiegelneuronen, und dadurch gibt es auch unterschiedliche Empathien. Die Freiheit liegt weniger im empathischen Akt, vielmehr im Augenblick, in dem entschieden wurde, wie viele Spiegelneuronen man bekäme.
Der holländische Psychiater Christian Keysers versuchte in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten die Basis des Einfühlungsvermögens zu beschreiben. Er stellt dabei die These einer Spiegelaktivität unseres Gehirnes auf, die Ereignisse und Eindrücke, die wir aus unserer Vergangenheit aufnehmen, widerspiegeln. Emotionen, die wir bei anderen Menschen beobachten, können in unserem Gehirn analog abgerufen werden. Diese Spiegelaktivität sei Teil jener neuronalen Mechanismen, die Empathie erzeugen.
In weiteren Untersuchungen konnte Keysers nachweisen, dass selbst das Hören von bestimmten Geräuschen Spiegelaktivitäten hervorruft. Werden bestimmte Laute, zum Beispiel vom Kauen, wahrgenommen, so regt das Hirnareale an, die in einer ähnlichen Aktivität involviert wären. Diese auf Hörsignale beruhenden Spiegelaktivitäten sind vor allem in der linken Seite des Gehirns angesiedelt, dort wo auch die Sprachbegabung zu Hause ist. Das unterstreicht die Hypothese, dass – ähnlich wie das Erlernen des Gezwitschers von Singvögeln – auch die Aneignung der Sprache und der Gestik von Kindern über Spiegelneuronen erfolgt. Kinder machen es nicht bloß nach, sie aktivieren bestimmte Hirnneuronen, in denen das Imitierte gespeichert bleibt. Damit wird selbst die Sprache gespiegelt.
Das bestätigt frühere Meinungen, dass Menschen mit einer höheren Empathie auch über eine höhere Spiegelaktivität verfügen.
Im mittleren präfrontalen Gehirn gibt es unterschiedliche, von den Spiegelaktivitäten in Anspruch