Doch die wirklichen Verhältnisse waren ernst und furchtbar. Alte Kulturvölker, welche nach einer glanzvollen Vergangenheit in die Hände fremder, etwa relativ barbarischer Eroberer gefallen sind und lange Jahrhunderte hindurch ungefragt von Hand zu Hand gehen, nehmen leicht ein Wesen an, welches dem ausländischen Beherrscher als verschlossene Bösartigkeit erscheint, mag es auch nur zum Teil diesen Namen verdienen. Den Anfang hiezu machte die persische Eroberung, welche die Ägypter nicht nur durch Unterwerfung und Druck an sich, sondern auch durch Missachtung ihrer alten Religion auf das schrecklichste, und zwar bleibend verbitterte. Der einfache Lichtkultus der Perser stiess sich an der massenhaften, halbtierischen Götterwelt ihrer neuen Untertanen; den einen war gerade alles dasjenige unrein, was den andern heilig schien. Daher jene nie endenden Empörungen, die mit Strömen Bluts nicht zu stillen waren. Die darauf folgenden griechischen Herrscher brachten keinen solchen Zwiespalt mit sich; ihr hellenischer Glaube suchte in dem Polytheismus Vorderasiens und Ägyptens nicht die Verschiedenheiten, sondern sehr geflissentlich die Verwandtschaften mit dem ihrigen. Für Alexander den Grossen ist Ammon gleich Zeus, den er überdies für seinen eigenen Erzeuger hält; und wenn der Grieche schon früher nicht daran zweifelte, dass sein Apoll mit dem ägyptischen Horus, sein Dionysos mit Osiris, seine Demeter mit Isis eins und dasselbe sei, so wird jetzt für den halben Olymp etwas Entsprechendes am Nil aufgefunden. Ptolemaeus, des Lagus Sohn, welcher bei der Teilung der grossen Erbschaft unter die Generale Ägypten für sich beiseite gebracht hatte, war nebst seinen nächsten Nachfolgern, die das neue Reich einrichteten208, überhaupt bemüht, den Ägyptern in gewissen Dingen entgegenzukommen. Die brutale persische Art, jeden Nationalcharakter ohne Not mit Füssen zu treten und es dann auf die verzweifeltsten Aufstände ankommen zu lassen, lag nicht in ihrem Interesse; dieses lief auf einen festgeschlossenen, wohlgeordneten Militär- und Beamtenstaat hinaus, mit so viel Druck, als eben nötig war, um alle Geldmittel des Landes in den Schatz des Königs zu leiten, wo trotz der dritthalbhunderttausend Soldaten und der viertausend Schiffe noch immer unglaubliche Summen liegen blieben. Daneben liess man dem Lande seine alte, ursprünglich agrarische Einteilung in Nomen; sogar sein Kastenwesen war gefahrlos, seit es keine einheimische Kriegerkaste mehr gab; die Priester und ihre Tempelherrschaften hegte und pflegte man sogar mit eigener feierlicher Teilnahme, aber nur, indem man sie zugleich beträchtliche Steuern zahlen liess. Ptolemaeus Euergetes baute noch den prachtvollen Tempel von Esne in einem Stil, der von dem altägyptischen kaum merklich abweicht; die Könige seines Geschlechtes liessen sich noch einbalsamieren, freilich auch neben, ja über Isis und Osiris als »erhaltende Götter« verehren. Dies war das deutlichste Symbol einer Amalgamierung, welche mehr und mehr dadurch erreicht wurde, dass die Griechen sich nicht mehr in Faktoreien einschlossen, sondern im Lande zerstreut mitten unter den Ägyptern lebten. Immerhin blieb die neue Weltstadt Alexandrien überwiegend griechisch; von hier strahlte das kosmopolitisch mitteilbar gewordene Griechentum, welches man den Hellenismus nennt, sein Licht am hellsten aus. Eine Zeitlang war keine Stadt in der Welt, die sich mit dieser hätte messen können an Pracht und an äusserlicher wie geistiger Regsamkeit, aber auch nirgends mochte ein gleiches Mass von Verdorbenheit beisammen sein wie hier, wo drei Völker (die Juden mitgerechnet), alle an ihrem altnationalen Wesen irre geworden, rein polizeilich gehütet werden mussten.
Als Augustus nach dem Siege von Actium das inzwischen etwas herabkommende Land übernahm209, sollte es plötzlich nur noch in bezug auf Rom existieren dürfen, als einträgliche Domäne und als Kornkammer. Keine Provinz wurde so überwacht wie diese, sowohl wegen des gefährlichen Volksgeistes und bedenklicher Weissagungen als wegen der ausserordentlichen Wichtigkeit. Ohne kaiserliche Erlaubnis durfte kein römischer Senator noch Ritter die Gegend betreten; das Amt eines Präfekten von Ägypten war einer der höchsten Vertrauensposten, weil man nirgends so eifrig als hier Abfall und Usurpation zu verhindern suchte. Natürlich musste man ihm auch eine weite Vollmacht lassen; seine äussere Stellung sollte den Ägyptern noch das alte Königtum vergegenwärtigen, an welches wenigstens seine imposanten Amtsreisen erinnern konnten. Da sah man ihn mit grossem Gefolge, worunter auch Priester, auf einem jener schwimmenden vergoldeten Ziergebäude den Nil auf- und niederfahren, welche der Luxus der Ptolemäer in Gebrauch gesetzt hatte. Von ihm abwärts stuft sich dann regelmässig das Beamtensystem ab, ungefähr wie man es von den Ptolemäern übernommen; vom Volk ist am wenigsten die Rede, und man weiss nicht, ob es auch nur seine geringern Beamten selber wählen und zu irgendeinem andern Zweck, als um Huldigungen an die Kaiser zu beschliessen, sich örtlich versammeln durfte. Die Besatzungen, welche das Land gegen innere und äussere Feinde zu bewachen hatten, sind auch für das sparsame römische System gering; bald nach Augustus entsprachen den acht Millionen Einwohnern (worunter eine Million Juden) höchstens 20 000 Mann Truppen. Als einen der wichtigsten strategischen Punkte hatten die Römer, wie später die Araber, die Gegend des alten Memphis erkannt, wo der Nil sich zu teilen beginnt; eine Legion lag deshalb immer in Babylon, dem jetzigen Altkairo. In Friedenszeiten mussten die Soldaten an den Nilkanälen schaufeln, Sümpfe abgraben u. dgl.; Probus brauchte sie sogar bei der Errichtung von Tempeln und andern Prachtbauten. Das Land durfte nicht zuviel kosten, wenn es im erwünschten Masse nutzbar sein sollte. Rom sorgte dafür durch ungeheure Zumutungen; ein Fünfteil des sämtlichen Ertrages an Getreide (wie einst schon unter den Pharaonen) oder ein teilweises Äquivalent an Geld als Grundsteuer (wenn nicht vollends der Doppelzehnten und die Grundsteuer) mussten an den Staat abgeliefert werden. Auch die Tempelbesitzungen waren von dieser Leistung nicht frei. Zu den mehr als dritthalb Millionen Zentner Getreide, welche jährlich auf diese Art aus dem Lande gingen, kamen dann noch die Kopfsteuer und hohe Eingangs- und Ausgangszölle, welche jetzt mehr eintrugen als unter den Ptolemäern, weil sich allmählich die ganze römische Welt an gewisse indische, hauptsächlich durch Ägypten transportierte Waren gewöhnt hatte. Von den Mündungen des Nils aufwärts bis nach Oberägypten und ans Rote Meer werden die Zollkastelle erwähnt; die Verwalter waren selbst Ägypter, wahrscheinlich weil zu diesem gehässigen Geschäft niemand tauglicher war. Von den Bergwerken war vielleicht nur der geringste Teil nutzbar für den Staat; die kostbaren Mineralien Ägyptens, der Smaragd von Koptos, der rötliche Granit von Syene, der Porphyr des Claudianischen Berges, dienten dem Luxus der Kleidung und des Bauens; neben den Arabern, welche ein besonderes Geschick im Auffinden der Gänge hatten, arbeiteten hier Tausende von Verurteilten.
Was die Beschäftigung und den ökonomischen Zustand des Volkes betrifft, so wird man annehmen können, dass Ober- und Mittelägypten, so weit es der Nil bewässerte, fast ganz dem Landbau anheimgefallen waren, und dass die lebhafte Fabrikation von Geweben aller Art nebst Glas- und Töpferwaren sich auf Unterägypten beschränkte, wo das Nildelta mit seinen Seitengegenden überdies noch für den Landbau die grössten Hilfsmittel bot. Im obern Lande dürfen wir uns die grossen alten Städte schon ziemlich verlassen und auf ihre unzerstörbaren Tempel und Paläste reduziert vorstellen210; wenigstens hatte die spätere Gründung Ptolemais (bei Girgeh) sie sämtlich überholt und war dem damaligen Memphis wenigstens gleichgekommen, was vielleicht nicht gar viel sagen will. Die Bevölkerung des untern Landes war, wie sich mit Sicherheit vermuten lässt, dem überwiegenden Teile nach ein im Taglohn arbeitendes, nichts besitzendes und sehr wenig bedürfendes Proletariat, dessen Geschäftigkeit, wenigstens in Alexandrien, noch Kaiser Hadrian211 mit Verwunderung rühmt: »Hier ist keiner müssig; die einen machen Glas, die andern Papier; wieder andere sind Weber; jedermann gehört zu irgendeinem Gewerbe und bekennt sich auch dazu; auch Podagrische und Blinde haben ihre Beschäftigung, und selbst solche, deren Hände lahm sind, liegen nicht müssig.« Ob damit eine sehr grosse Zerstückelung des Grundbesitzes oder im Gegenteil eine Vereinigung in ganz wenigen Händen verbunden war, ist nicht zu entscheiden, indem wir zum Beispiel nicht wissen, wie gross in Unterägypten die Tempelgüter und die kaiserlichen Domänen sein mochten; durch jene enorme Abgabe war übrigens auch der freie Grundbesitz faktisch unfrei geworden.
Daneben wird uns in der Umgebung des jetzigen Damiette ein Distrikt, die sogenannten Bukolien, geschildert212,