Die Tür wurde um einen Spaltbreit geöffnet. Noch stand Misstrauen in den Augen der weißhaarigen Frau, während sie die Fremde musterte. Aber dann trat sie doch beiseite und sagte: »Kommen Sie rein.« Sie war von untersetzter Gestalt und bewegte sich schwerfällig. »Ich mach sonst grundsätzlich nicht auf«, fuhr sie fort, »es passiert doch so viel.«
»Ich hätte Sie vorher anrufen sollen, aber Sie haben kein Telefon«, bemerkte Cornelia in entschuldigendem Ton.
»Ich brauch kein Telefon«, kam es zurück. »Wenn mal was ist, kann ich nebenan bei Frau Berger telefonieren. Wie geht’s ihr denn?«
»Nicht sehr gut. Sie sehnt sich danach, ihr Kind zu sehen. Ich wollte Heike für eine Stunde zu ihr bringen. Sie liegt auf meiner Station. Ich bin Dr. Cornelia Meinrad.«
»Da wird Heike sich ja freuen. Sie fragt dauernd nach ihrer Mama.« Anna Hoppe führte die Besucherin ins Wohnzimmer. Dort saß ein kleines Mädchen auf dem Fußboden vor dem Fernseher, es lief eine Kindersendung. »Heike, hier will jemand zu dir. Du darfst deine Mama besuchen.«
Wie elektrisiert sprang die Kleine auf, sah mit großen fragenden Augen zu der fremden jungen Frau empor.
Was für ein reizendes Kind, musste Cornelia denken.
»Guten Tag, Heike«, sagte sie mit einem netten Lächeln und streckte ihre Hand nach der Kinderhand aus. »Du kannst gleich mit mir kommen, um deine Mutti zu besuchen. Das möchtest du doch gern, nicht?«
»Ja, o ja!«, stieß Heike hervor. »Kommt sie denn bald wieder nach Hause?« Cornelia wurde einer Antwort enthoben, weil Frau Hoppe in diesem Moment sagte: »Ich wär ja auch schon mal mit ihr hingefahren, aber ich komme ja kaum die Treppen hinunter.«
»Und dazu ist es auch noch ein ziemlich weiter Weg«, äußerte Cornelia freundlich. »Es ist schon sehr dankenswert, dass Sie sich Frau Bergers Töchterchen annehmen.«
»Tja, es ist ja sonst niemand da«, seufzte die Frau. Indessen zog Heike sich eilig ihre Schuhe an und ihr T-Shirt zurecht, nahm auf Geheiß von Frau Hoppe ihr Strickjäckchen darüber.
»Kann ich noch schnell meine Spardose aus der Wohnung holen?«, fragte das Kind dann etwas atemlos.
»Wozu brauchst du deine Spardose? Frau Doktor fährt doch mit dem Auto hin.« Unwirsch kam es heraus, aber sie meinte es sicher nicht so.
Heike schlug die Augen nieder. »Ich wollt der Mami doch was mitbringen«, brachte sie mit dünnem Stimmchen hervor.
Cornelia war gerührt. »Wir kaufen für deine Mami an dem Blumenstand vor dem Krankenhaus ein Sträußchen, ja?«, schlug sie vor. »Du brauchst jetzt kein Geld dafür.«
»Aber ich hab was, ich kann’s bezahlen«, wandte das Kind ernsthaft ein.
»Fein. Dann lege ich es dir nur vor, und du gibst es mir später wieder. Machen wir das so?«
Heike lächelte scheu zu ihr auf, und dann gingen sie, mit einem Gruß von Frau Hoppe für die Kranke bedacht. Auf der Treppe griff Heike nach Cornelias Hand, es war wie eine ihr unbewusste Geste, aber irgendwie drückte es ein Vertrauen aus. Lange blieb sie still. Erst als sie schon ein Stück gefahren waren, sagte sie: »Wenn Sie eine Frau Doktor sind, machen Sie dann meine Mama bald wieder gesund?«
Cornelia fühlte ihre Kehle eng werden. »Es liegt nicht allein in meiner Hand, Heike«, gab sie gepresst zurück.
Es war eine ausweichende Antwort. Keine Antwort für ein Kind, dessen Augen flehten. Doch was blieb ihr sonst zu sagen?
Sie war froh, als sie angelangt waren. Am Blumenstand kauften sie einen Strauß von bunten Anemonen. Heike trug ihn vorsichtig, als sie, beklommen um sich schauend, mit Cornelia durch die Gänge ging, an vielen weißen Türen vorbei. Und endlich lagen Mutter und Kind sich in den Armen …
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Dr. Holl erstaunt, als er die Kollegin im Flur am Fenster stehen und in die Anlage hinabsehen sah. »Sie haben doch gar keinen Dienst.«
»Ich habe Frau Berger ihr Töchterchen gebracht«, antwortete Cornelia mit matter Stimme. »Ich fahre die Kleine auch wieder nach Hause.«
»Dafür opfern Sie Ihre Freizeit?«
Cornelia hob kaum merklich die Schultern. »Gemessen an den Umständen, ist das kein Opfer«, meinte sie.
Sie ging dann eine Weile in der Anlage spazieren, trank ein Glas Tee in dem Café, das sich nahe dem Ausgang befand, und als auf diese Weise eine gute Stunde vergangen war, fuhr sie wieder hinauf auf die Station. Sie fand Heike auf dem Bett ihrer Mutter sitzend. Sie waren still, die beiden, hielten sich nur bei den Händen. Die Blicke von Ärztin und Patientin trafen sich.
»Ich bin Ihnen so dankbar, Frau Doktor, dass ich meine Heike mal sehen durfte«, murmelte Renate Berger.
»Sie werden sie noch öfter sehen«, sagte Cornelia. »Übermorgen, am Sonntagnachmittag, wird Heike Sie wieder besuchen.«
Die Verabschiedung ging mit vielen Küsschen zwischen Mutter und Kind vor sich. »Musst doch nicht weinen, Mami«, sagte Heike zärtlich tröstend, als sie merkte, dass deren Gesicht nass war. »Hast doch gehört, ich darf ganz bald wiederkommen.«
»Ich wein ja gar nicht«, behauptete Renate Berger und lächelte unter Tränen.
»Ich hab Mama erzählt, dass ich es gut hab bei Frau Hoppe«, berichtete Heike unterwegs. »Sie kocht ja auch für mich und sorgt dafür, dass ich pünktlich in die Schule komme. Aber ich glaub, sie wäre bald lieber wieder allein, weil sie das so gewöhnt ist, und sie ist ja auch schon sehr alt, nicht?«
Später, als sie Heike zurückgebracht und wieder zu Hause war, sagte Cornelia zu ihrem Vater: »Ich möchte nur wissen, was aus dem Kind mal werden soll, wenn die Mutter nicht mehr ist.«
»Wenn sie noch eine Schwester in Amerika hat, sollte man doch annehmen, dass diese sich um das Kind kümmern wird«, meinte Bruno Meinrad bedächtig.
An diesem Abend, ihrem letzten Nachtdienst für den Monat, sprach Cornelia Frau Berger darauf an. Sie hatten sich vorher über Heike unterhalten, was für ein liebes, verständiges Kind sie doch sei. »Man muss sie einfach gernhaben«, äußerte Cornelia, und, um zum Thema zu kommen: »Kennt Heike ihre Tante in Amerika eigentlich?«
»Ja, aber sie war noch sehr klein, als wir mal dort waren, kaum drei Jahre. Monika hatte mir das Flugticket geschickt. Sie war da gerade ein Jahr verheiratet und wollte mir zeigen, wie sie nun lebte als Luxusfrau …«
»Luxusfrau?«, wiederholte Cornelia fragend.
Renate Berger nickte schwach. »Meine Schwester hat einen sehr reichen Mann geheiratet, der sie auf Händen trägt. Sie hat ihn auf einer Internationalen Messe kennengelernt, wo sie als Hostess arbeitete. Er hat sie dann einfach mitgenommen nach Kalifornien. Es war Liebe auf den ersten Blick, sozusagen.«
»Wenn Ihre Schwester in so guten Verhältnissen lebt, dann müsste es doch leicht für sie sein, hierherzukommen. Geschwister hängen doch im Allgemeinen aneinander, besonders, wenn sie ihre Eltern früh verloren haben.«
»Früher, ja«, sprach die Patientin leise, »aber inzwischen ist das anders geworden. Wir hören nur wenig voneinander. Die Entfernung, wissen Sie, und die ganz verschiedenen Lebensumstände – da wird man sich schon fremd.«
Cornelia vermochte das nicht ganz einzusehen. Sie versuchte, sich ein Bild von dieser Frau in Amerika zu machen. »Hat Ihre Schwester ein Kind?«, erkundigte sie sich.
»Ach nein«, antwortete Renate Berger nur.
»Will sie keine Kinder?«, fragte Cornelia weiter.
»Ich weiß nicht«, zögerte die andere. »Die Monika vielleicht schon … Aber das kann ja noch werden. Sie ist drei Jahre jünger als ich«, fügte sie hinzu.
»Ich kann mir ungefähr denken, worauf Sie hinauswollen, Frau Doktor«, kam es schleppend über ihre Lippen. »Aber meine Heike wäre