»Eine Schwester. Aber die ist in Amerika. Ich habe ihr geschrieben, wie es um mich steht. Aber sie wird wohl nicht kommen können. Ihr Mann lässt sie bestimmt nicht fort.«
Sekundenlang schwieg Cornelia. »Wo ist Ihre Heike denn jetzt?«, erkundigte sie sich dann.
»Bei einer Nachbarin, einer alten Frau. Sie geht wegen eines Hüftleidens nur noch selten aus dem Haus, und der Weg hier heraus ist ihr zu umständlich.«
»Gibt es denn nicht eine Freundin, eine Kollegin, die Ihnen Ihr Töchterchen mal bringen könnte? Sie sind doch berufstätig, nehme ich an.«
»Ich habe für ein Übersetzungsbüro zu Hause gearbeitet. So konnte ich mich immer um Heike kümmern. Und eine Freundin hab ich nicht. Die paar Leute, die ich kenne, haben immer alle keine Zeit.« Es klang so niedergeschlagen, dass Cornelia die blasse Hand, die sie immer noch hielt, fester ergriff.
»Morgen Nachmittag bringe ich Ihnen Ihre Heike«, versprach sie spontan. »Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, dann hole ich sie und fahre sie auch wieder zurück.«
»Sie – Sie würden das tun, Frau Doktor?«, stammelte die Patientin mit geweiteten Augen.
»Ja, warum nicht«, sagte Cornelia betont leichthin. Ein schwaches Lächeln voller Dankbarkeit huschte um Renate Bergers Mund.
Ihre Stimme war plötzlich fester, als sie die Adresse nannte, den Weg beschrieb. Cornelia nickte und erhob sich. »Gut. Dann werden Sie jetzt aber auch die Tabletten nehmen und schlafen, damit Sie morgen frisch sind, wenn der liebe Besuch kommt. Ich werde später noch einmal nach Ihnen schauen.«
Das Herz war ihr schwer, als sie die Tür von Zimmer 11 hinter sich schloss. Welch eine traurige Geschichte war das.
In der Mitte des Ganges gab es einen offenen Aufenthaltsraum, den man der zahlreichen Grünpflanzen wegen »die Laube« nannte. Einige Patienten hatten sich dort vor dem Fernseher niedergelassen. Cornelia erkannte unter ihnen Frau Eckner. Ihr fiel ein, was Dr. Holl ihr gesagt hatte. Ach ja, dachte sie, muss das heute sein, dass ich sie mir vornehme? Ihr stand der Sinn nicht danach.
Aber da kam sie schon auf sie zugestürzt, mit wehendem Morgenrock. »Frau Doktor!«, rief sie mit schriller Stimme. »Ich habe einen wahnsinnigen Druck um den Kopf. Also das ist wie ein Ring …« Mit einer theatralischen Gebärde fuhr sie mit allen zehn Fingern in ihr hellblond gefärbtes Lockenhaar. »Mit meinem Blutdruck muss irgendetwas nicht stimmen. Entweder ist er zu hoch, oder zu niedrig. Ich flehe Sie an, untersuchen Sie mich und geben Sie mir ein Medikament, sonst überstehe ich die Nacht nicht.«
»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Cornelia. »Kommen Sie mit.«
Es war wieder einmal falscher Alarm, stellte sie fest, während sie den Blutdruck maß, die Augenreflexe prüfte.
»Hoffentlich krieg ich keinen Schlaganfall«, murmelte die Patientin dumpf.
»Davon sind Sie weit entfernt«, sagte Cornelia und nahm das Stethoskop ab, mit dem sie den Körper gewissenhaft abgehorcht hatte. »Sie steigern sich in etwas hinein, Frau Eckner. Das ist Ihre Krankheit.«
Die Angeredete verzog weinerlich das Gesicht. »Und ich dachte, bei Ihnen würde ich Verständnis finden. Sie sind doch auch eine Frau. Die Männer, diese Herrgötter in Weiß, die haben ja überhaupt kein Mitgefühl mit einem, da kann man noch so elend dran sein«, jammerte sie und wischte sich über die Augen.
»Ich fürchte, das sehen Sie falsch«, erwiderte Cornelia ruhig. »Jeder ist bemüht, zu helfen, denn das ist unsere Aufgabe.«
»Mir hat noch niemand helfen können«, sagte Ilse Eckner verbittert, während sie wieder in ihren Hausmantel schlüpfte.
»Darüber wollen wir einmal reden, von Frau zu Frau!« Aufmunternd nickte Cornelia der anderen zu.
»Jetzt gleich?«, fragte diese hoffnungsvoll und fast begierig. Den »Ring um den Kopf« schien sie vergessen zu haben.
»Ja«, sagte Cornelia knapp und führte sie in das neben dem Untersuchungsraum gelegene Sprechzimmer der Ärzte.
Es fiel ihr nicht schwer, das Vertrauen der Patientin zu gewinnen. Reden zu können und eine geduldige Zuhörerin zu haben, das bereitete ihr ein Hochgefühl. Es war ja sonst niemand da, der ihr wirklich zuhörte, wirklich auf sie einging, so betonte sie. Sie war eine sehr einsame Frau, wie sie versicherte. Ihr Sohn war aus dem Haus, und ihr Mann hatte neben dem Beruf seinen Stammtisch, seinen Kegelklub, und am Wochenende fuhr er zu den Fußballspielen seines Vereins. Da blieb nicht viel Zeit für sie übrig.
»War das immer so?«, fragte Cornelia mit einem aufmerksamen Blick, als ihr Gegenüber einmal Luft holte.
»N-nein«, gab Frau Eckner etwas zögernd zu, »eigentlich nicht. Erst seit ein paar Jahren, seit unser Junge sich abgenabelt hat, wie er das nennt, und seit ich eine kranke Frau bin. Mein Mann glaubt ja nicht daran. Er nimmt schon Reißaus, wenn ich nur davon anfange.« Ihre Miene nahm einen tiefgekränkten Ausdruck an.
»Sie sind keine kranke Frau, Frau Eckner«, hielt ihr Cornelia offen und nachdrücklich entgegen. »Organisch sind Sie gesund, dafür sollten Sie dankbar sein. Sie fühlen sich vernachlässigt. Sie haben keine Aufgabe mehr, seit Ihr Sohn selbstständig geworden ist, den Sie wahrscheinlich liebevoll umsorgt haben. Sie flüchten sich in immer neue Leiden und Beschwerden, um Ihren Mann auf sich aufmerksam zu machen. Aber damit erreichen Sie gerade das Gegenteil – er nimmt Reißaus, wie Sie selber sagen. Sie vertreiben ihn und wahrscheinlich auch andere nur mit Ihren vielen Klagen. Sonst wären Sie sicher nicht einsam, und vermutlich käme Ihr Sohn dann auch öfter.«
Die Unterlippe der Frau begann zu beben. »Nun hatte ich so gehofft, bei Ihnen Verständnis zu finden, Frau Doktor, und nun halten auch Sie mich für eine Spinnerin!«
»So ist es nicht«, widersprach Cornelia. »Körperliches und seelisches Befinden hängen zusammen, und bei Ihnen ist die Seele der Auslöser Ihres schlechten Befindens.«
»Die Seele.« Frau Eckner nickte bedeutungsvoll. Das hatte ihr noch niemand gesagt. Es war etwas Neues. Es war interessant. »Gibt es dafür auch etwas?«
»Wenn Sie Pillen meinen: Nein. Aber es gibt Ärzte, die sich ausschließlich damit befassen. Drüben in der Nervenklinik.«
Hier fuhr Frau Eckner auf. »Ich bin doch nicht geistesgestört!«, entrüstete sie sich.
»Davon kann gar keine Rede sein«, beschwichtigte Cornelia. »Sie machen sich eine völlig falsche Vorstellung. Dort sind Psychiater, die sich in ausführlichen, behutsamen Gesprächen mit den Patienten befassen und ihnen sozusagen den Sinn wieder zurechtrücken, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Darauf sind sie spezialisiert, während wir hier für körperliche Leiden da sind.«
»In Gesprächen«, sagte Frau Eckner nachdenklich. Das gefiel ihr.
»Ja. Deshalb schlage ich vor«, hakte Cornelia nach, »dass wir Sie, im Einverständnis mit Oberarzt Dr. Holl, zur ambulanten Behandlung dorthin überweisen. Vielleicht werden Sie sich schon bald sehr viel wohlerfühlen.«
»Man wird ja sehen«, murmelte die andere skeptisch.
Am nächsten Morgen, bevor sie nach Hause fuhr, erstattete Cornelia Dr. Holl Bericht, da er gerade seinen Dienst antrat.
»Gut gemacht«, schmunzelte er. »Sie wird sich ungeheuer wichtig vorkommen. Der arme Mann kann einem leidtun. Na, vielleicht bringen sie sie da zur Vernunft. Sonst noch etwas?«
»Nein, nichts Besonderes. Frau Berger hat diese Nacht geschlafen, ich habe mehrmals nach ihr gesehen. Sie ist sich über ihren Zustand im Klaren«, fügte sie niedergeschlagen hinzu.
Der Oberarzt nickte ernst. Dann ging er zur Tagesordnung über.
*
Auf Cornelias mehrmaliges Klingeln wurde nicht geöffnet. Erst als jemand das Haus verließ, schlüpfte sie hinein und stieg die Treppen zum 2. Stock empor. Es war ein älteres, vierstöckiges Mietshaus mit jeweils drei Wohnungen auf jeder Etage. Sie fand das Namensschild Berger und ein paar Schritte weiter