Der kleine Fürst Staffel 6 – Adelsroman. Viola Maybach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Viola Maybach
Издательство: Bookwire
Серия: Der kleine Fürst
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740927226
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das verletzte Bein hoch und versuchte, dem Mann seine Jacke unterzuschieben, damit er nicht länger direkt auf dem kalten und feuchten Waldboden lag. Da es keinen Tee mehr gab, flößte er ihm außerdem noch Wasser ein und versuchte es dann mit einem kleinen Stück Brot. Es war wie zuvor: Eine Weile dauerte es, bis der Mann wusste, dass er kauen und schlucken musste, dann jedoch tat er es.

      »Sie kommen«, sagte Anna, die ihr Gespräch beendete. »Wir müssen immer wieder miteinander telefonieren, damit wir sie lenken können, aber Herr Hagedorn meinte, das würde bestimmt klappen. Es wird allerdings eine Weile dauern, weil wir ja ziemlich weit vom Schloss entfernt sind.«

      »Und Herr Dr. Brocks?«

      »Den ruft er an, damit ein Rettungswagen zum Schloss geschickt wird. Er hat gesagt, wir sollen uns keine Sorgen machen, er würde sich um alles kümmern.«

      »Wenn Herr Hagedorn das sagt, tut er das auch, Anna.«

      Sie nickte. »Und was machen wir jetzt, Chris? Stell dir vor, er stirbt, während wir hier warten …«

      »Ich glaube nicht, dass er stirbt. Sieh nur, er isst – und ich glaube, er hat immer noch Durst. Aber wir haben nur noch wenig Wasser.«

      »Ich habe auch Durst«, gestand Anna.

      »Wir haben alle Durst«, stellte der kleine Fürst fest.

      »Er geht vor. Gib ihm, was noch da ist, Chris.«

      Der kleine Fürst nickte und flößte dem Mann das restliche Wasser ein.

      *

      »Ein verletzter Mann, vermutlich angeschossen?«, fragte Sofia ungläubig. »In unserem Wald?«

      »Jawohl, Frau Baronin«, erklärte Eberhard Hagedorn und wiederholte, was Anna gesagt hatte.

      Baron Friedrich war bereits aufgestanden, sein Sohn Konrad ebenfalls. »Weiß Herr Wenger Bescheid, Herr Hagedorn?«

      Robert Wenger war der Stall­meis­ter auf Sternberg.

      »Ja, Herr Baron. Er steht mit einigen Pferdepflegern zur Verfügung. Sie können einen gewissen Teil des Weges mit Wagen zurücklegen, ich habe mir das bereits auf einem Plan angesehen.«

      »Konny, geh’ zu Herrn Wenger und sag ihm das – er soll die Wagen organisieren. Wir brauchen außerdem Decken, Jod zum Desinfizieren und Verbandszeug …« Konrad stürzte hinaus.

      »Vor allem müssen Sie Wasser mitnehmen, Herr Baron, der Mann scheint halb verdurstet zu sein.«

      »Danke, Herr Hagedorn.« Friedrich umarmte seine Frau. »Es wird hoffentlich nicht allzu lange dauern, bis wir zurück sind, Sofia.«

      »Aber es soll doch so unwegsames Gelände sein, Fritz!«

      »Die beiden haben Handys dabei, und Anna konnte ziemlich gut beschreiben, wo sie sind. Wir kommen so schnell wie möglich zurück, dann wird der Mann ins Krankenhaus gebracht und sich hoffentlich bald erholen.«

      »Und die Polizei? Muss die nicht benachrichtigt werden?«, fragte Sofia.

      »Doch, aber zuerst sollten wir den Mann retten, denke ich.« Friedrich gab Sofia einen Kuss und eilte hinaus.

      Wenige Minuten später setzten sich die Wagen in Bewegung.

      »Was für eine Geschichte!«, sagte Sofia. »Ein verletzter Mann in unserem Wald – wie ist das möglich, Herr Hagedorn?«

      »Ich kann es Ihnen nicht sagen, Frau Baronin. Vielleicht ein Jagdunfall?«

      Ihr Blick verriet, wie sehr dieser Gedanke sie entsetzte.

      »Sie meinen, jemand hat den Mann aus Versehen angeschossen und sich dann nicht weiter um ihn gekümmert?«

      »Vielleicht hat er es nicht gemerkt«, vermutete der Butler. »Solche Unfälle hat es schon gegeben, Frau Baronin.«

      »Aber doch nicht bei uns!«, murmelte sie.

      »Wenn Sie gestatten, dann rufe ich jetzt Herrn Dr. Brocks an, außerdem brauchen wir einen Rettungswagen.«

      Sofia nickte abwesend. Als Eberhard Hagedorn hinausgegangen war, setzte sie sich wieder an den Frühstückstisch und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Doch er schmeckte ihr nicht, außerdem hatte sie keine Ruhe mehr.

      Aber da sie nichts tun konnte außer zu warten, blieb sie sitzen und trank den mit einem Mal bitter schmeckenden Kaffee. Hoffentlich fanden sie den verletzten Mann tatsächlich schnell und konnten ihm helfen!

      *

      Cosima beobachtete ihre Schwes­ter und Niko von Ehlenberg verstohlen, wie sie es immer tat, wenn sie die beiden zusammen erlebte. Wieso kamen sie einander eigentlich nicht endlich näher? Ein Blinder konnte sehen, wie gern sie sich hatten!

      Kein Trick schien zu helfen. Sie hatte die beiden schon unter den verschiedensten Vorwänden allein gelassen – doch genützt hatte es bisher nichts. Und was das Schlimmste war: sie konnte mit Felicitas über alles reden, nur nicht über Niko. Kam die Rede auf ihn, wurde ihre Schwester verschlossen wie eine Auster – oder sie äußerte nur Belanglosigkeiten, als hätte der charmante junge Mann keine große Bedeutung für sie. Es war wirklich zum Verrücktwerden, wenn man zwei Menschen dabei zusehen musste, wie sie einander unglücklich machten, weil sie die richtigen Worte nicht fanden.

      Auf einmal war sie es leid, sich das Elend noch weiter anzusehen. »Ich gehe zurück«, sagte sie aus heiterem Himmel. »Wenn ich eine Woche Urlaub machen will, sollte ich ein bisschen vorarbeiten, dafür ist heute genau der richtige Tag.«

      »Ach komm schon, Cosi!«, sagte Niko. »Es ist Sonntag, den wirst du dir doch nicht mit Arbeit verderben wollen.«

      Felicitas, deren Wangen sich wieder einmal zart gerötet hatten, nickte eifrig. »Niko hat Recht, vergiss die Arbeit, Cosi«, sagte sie. »Wir könnten noch zusammen ins Kino gehen und diesen Film ansehen, von dem du neulich gesprochen hast.«

      Am liebsten hätte Cosima die beiden genommen und ordentlich durchgeschüttelt. Was war nur mit ihnen los, dass sie nicht miteinander allein sein wollten? »Ich gehe!«, wiederholte sie. »Und ihr macht, was ihr wollt.«

      Sie wartete weitere Proteste nicht ab, sondern drehte sich um und lief davon. Sollten sie tun, was immer sie wollten, aber sie würde ihnen dabei nicht länger Gesellschaft leisten! Doch als sie ihr Büro erreicht hatte, saß sie vor dem Computer und stellte fest, dass sie nicht die geringste Lust zum Arbeiten hatte. Das war ja auch nur ein Vorwand gewesen.

      Unversehens kam ihr Graf von Brühl wieder in den Sinn, und da sie ohnehin vor dem Computer saß, fand sie, dass es nicht schaden würde, sich ein wenig über ihn zu informieren. Wenn ihr jemand auf Anhieb so unsympathisch war wie dieser Mann, dann wurde sie automatisch neugierig.

      Sie verbrachte eine halbe Stunde damit, die Familiengeschichte der Brühls zu studieren, was erstaunlich langweilig war. Insgeheim hatte sie gehofft, ein paar Beweise dafür zu finden, dass ihre Abneigung gegen Adalbert von Brühl berechtigt war, doch sie fand keinerlei Hinweise auf einen schlechten Charakter. Der Mann war verheiratet, ohne Kinder, und schien ein ziemlich unauffälliges Leben zu führen. Nicht einmal als Frauenheld hatte er bisher für Aufsehen gesorgt, es gab keine Ausschweifungen, keine Skandale, absolut nichts.

      Enttäuscht schaltete sie ihren Computer wieder aus. Offensichtlich war heute nicht ihr Tag!

      *

      »Schon eine Stunde«, sagte Anna. »Und ich habe das Gefühl, dass es ihm schlechter geht.« Mit leiser Stimme setzte sie hinzu: »Und ich bin mittlerweile schrecklich durstig.«

      Christian nickte, ihm ging es genauso. Der Mann stöhnte wieder, die Augen öffnete er gar nicht mehr. Ab und zu leckte er sich die Lippen, aber sie hatten nichts mehr, was sie ihm hätten geben können.

      Togo strich unruhig über die kleine Lichtung, manchmal bellte er, doch niemand antwortete ihm. Der Wald war geradezu gespens­tisch still. Nicht einmal die Vögel sangen.

      Wenig später fing es an zu regnen. Zuerst waren sie entsetzt, denn nun