»Waren das so schlimme Dinge – das sollte dein Vater wissen ... das ist doch ein Grund – was sagte sie denn?«
»Wie kann ich das jetzt Vater sagen? Nie kann ich das, sie sagte die schlimmen Dinge, und ich dachte sie ... Nichts davon, Tante Helen, nein.«
»Närrchen, du bist im Unglück, nicht sie!«
»Ich will es nicht sagen, nein. Ich will das doch nicht sein, wofür sie mich halten.«
»Wie du willst, Rosmarie, denn schließlich kann deine Mutter das auch bestreiten, und deine Sache wird dadurch nicht besser. Nein, vielleicht hast du recht. Nun, sagen wir, Mama sei so erregt gewesen, daß du lieber gleich nach deinem Vater gegangen wärest. O Gott, die Sache hat doch ein Loch, Rosmarie: nun, vielleicht merken sie es nicht, du kannst ja auch den Kopf verloren haben. Geh zu Bett, arme Rosmarie, heute nacht erlösen wir dich nicht mehr, ich weiß jetzt doch, was mein armer Bruder zuerst wissen muß.«
Eine Tragödie in ihrer hübschen, kleinen, molligen Villa. Prinzeß Helene sieht nicht einmal im Theater Tragödien an, wo man doch das beruhigende Gefühl haben kann, daß die Heldin, so tot sie auch daliegt, sich nachher zu einem mehr oder weniger bescheidenen Souper erhebt ... Die rundliche Dame weiß nicht ein und aus mit ihrer blassen apathischen, schweigenden Nichte. Denn auch am nächsten Tage hat Rosmarie keine weiteren Worte über die Vorgänge in jener Nacht gefunden. Warum sie an jenem Morgen ihrem Vater nicht mit dem Mitgefühl begegnet war, das sie jenem großen Schmerz doch schuldig war, darüber schweigt sie auch. Und das treibt den Stachel immer wieder in ihres Vaters Herz.
Zum großen Glücke erholt sich die Fürstin rasch, ja mit fast unerwarteter Schnelligkeit. Es ist, wie wenn ihre Natur von einem unheimlichen Druck befreit wäre. Sie geht nach Wiesbaden zur Kur und blüht dort auf wie eine Rose.
Rosmarie blüht nicht auf. Sie hat öfters die schweren Ohnmächten, die Tante Helens Entsetzen sind. –
Sie läßt einen bedeutenden Nervenarzt, der zugleich Leiter eines Sanatoriums ist, kommen, und Rosmarie wird ihm vorgeführt. Der kluge und feine Geheimrat, der so viele menschliche Nöten und Leiden kennt, steht ja bald, daß in diesem weißen, apathischen Kinde irgend eine Feder zersprungen sein muß, eine Krankheit, gegen die weder er noch andere Ärzte ein Mittel haben. Vielleicht ist ihr eine Liebe, die ihren Eltern nicht paßte, genommen worden, doch sieht sie fast zu jung und zu passiv kühl aus für eine große Leidenschaft. Und Prinzessin Helen suggeriert ihm das hilfreiche Wort: Luftveränderung. Rosmarie soll den Winter in Italien zubringen, und Prinzessin Helen will sie in langsamen Etappen dahin begleiten. Miß Granger geht ja auch mit und Lisa und Prinzeß Helens erprobte Frau Waren und der fette Diener. »Miß Granger ist eine Mehlamsel,« klagt die Brauneckerin in einem Briefe an ihren Bruder, »aber schließlich ist sie hochanständig und in einem Alter, wo der Mensch seine meisten Dummheiten gemacht zu haben pflegt. Für Rosmarie hat sie nichts Aufmunterndes, aber wer hat das? Ich habe es süß und bitter, kalt und heiß, zart und grob bei ihr versucht, sie hört alles an, und läßt man sie einen Augenblick allein, so fällt sie ganz zusammen.«
Auf der Reise lebt Rosmarie fast ein wenig auf, hie und da fliegt sogar ein rasch wieder schwindender Rosenschein über ihr Gesicht, und sie äußert einen Wunsch, was Prinzessin Helen alles sofort nach Brauneck berichtet. Es ist noch viel zu früh im Jahre, als sie an die sonnenheiße, ausgestorbene Riviera kommen, die Stechmücken leben noch alle, und die Villen und Hotels stehen mit geschlossenen Läden tot und öde da, und ein fußdicker Staub liegt auf allem.
In Bordighera, wo es immer noch verhältnismäßig am grünsten ist, findet Prinzessin Helen alles Wünschenswerte beisammen. Eine kleine Villa mit Marmorbalkon und Treppe in einem verlassenen, sehr großen Garten. Darin wird Rosmarie installiert. Tante Helen mietet eine mit den besten Zeugnissen versehene Köchin, die etwas Französisch versteht, und ein Hausmädchen, das nur Italienisch kann, das über Rosmaries Anblick so erstaunt ist, daß es den Finger in den Mund stecken und sie regungslos anstarren muß.
Leider sind alle Stechmücken noch lebendig und haben eine unheimliche Freude an dem Braunecker Blut. Tante Helen steht wie tätowiert aus, und beinahe hätte sich ein schweres Unglück ereignet.
Eines Abends stieg nämlich die rundliche Dame mit einer Kerze in der Hand zwischen den Musselinvorhängen ihres Bettes herum, um nach den dort verborgenen Untieren zu suchen. Dabei kam sie mit dem Licht den dünnen Vorhängen zu nahe, zwischen denen sie doch eingeschlossen war, und diese fingen hellauf zu brennen an. Die Dame schrie auf, Rosmarie kam herein und riß sofort die Vorhänge herunter, warf eine Reisedecke darauf, und im Nu war das Feuer erstickt.
Prinzessin Helen schrieb einen langen Brief voll Lobens und Rühmens nach Brauneck. »Rosmaries Zustand hat sich entschieden gebessert, und, was mich besonders wunderte, als sie alles und jedes Recht gehabt hätte, in Ohnmacht zu fallen, tat sie dieses nicht, sondern rettete ihre Tante wie ein gelernter Feuerwehrmann!«
Aber die Zanzaris nehmen keine Vernunft an und bezeigen immer die gleiche Vorliebe für das Braunecker Blut, so verläßt Tante Helen das ungastliche Gestade, einen wohlgeordneten kleinen Staat hinterlassend, in dem jedes Glied feierlich hat versprechen müssen, niemals mit Kerzen hinter Vorhänge zu steigen. Es ist ja das beste, daß Rosmarie nun den Winter hier bleibt und über diese traurige Geschichte Gras wächst. –
Rosmarie und Charlotte müssen ja doch auseinander gehalten werden ... »Nur keine Katastrophen mehr!« rät Prinzessin Helen ihrem Bruder, dessen Zorn auch schon leise zu verrauchen beginnt.
Tante Helen hat das Hauswesen gut geordnet. Die Köchin stiehlt nicht mehr, als ihr Stand und ihre Nationalität es ihr als anständig gestatten, Miß Granger hat beim englischen Pfarrer Besuch gemacht, und der deutsche Pfarrer bei Rosmarie. Miß Granger hat eine alte Freundin aus England wieder getroffen, und ihr farbloses Wesen hat darüber wieder etwas Leben bekommen. Jeden Tag gehen Rosmarie und Miß Granger zum Capo, wo die uralte kleine Kirche steht, und sitzen an einer windgeschützten Mauer und sehen den Wellen zu, wie sie an die Felsen herankommen. Und als Rosmarie zum ersten Male sieht, wie die Wellen vom gestrigen Sturme aufgewühlt daherkommen, sich donnernd in die Höhe heben, daß blaukristallene Wundergrotten sich auftun, und dann wieder herabsinken und klirrende weiße Schaumschleppen nach sich ziehen, bis wieder neue Berge kommen, – da hat sie sich überfreut, und Miß Granger hat die größte Not, mit ihr nach Hause zu kommen.
Abends geht die Engländerin sehr früh zu Bett, eigentlich gleich nach dem gemeinsamen Diner, das die beiden Damen in einsamer Pracht und feierlichen Abendtoiletten miteinander einnehmen, – diese Gewohnheit hat sie bald nach Prinzessin Helens Abreise angenommen, und sie bleibt ihr treu. Auch mehren sich Miß Grangers englische Bekannte wie der Sand am Meer, und fast jeden Tag ist sie zu einem »afternoontea«, eingeladen, von dem sie erst kurz vor dem Diner zurückkommt. Rosmarie hat Zeit in Hülle und Fülle, zu grübeln und vor sich hinzustarren, es stört sie keine immer muntere und originelle Tante Helen darin.
Sie sitzt da den langen Nachmittag und sieht auf die verstaubten, sonnenmüden, zerschlissenen Palmen hinaus und auf den blauen Streifen Meer, der durch sie sichtbar wird. Sie nimmt langsam eine der Rosen nach der andern aus den Vasen und dreht sie zwischen den Händen und zieht an den feinen weichen Blättern, bis sie herunterfallen und das gelbe Herz der Rose herausscheint. Sie ist immer ganz umgeben von hingestreuten Rosenblattern. Manchmal hält sie die Blätter in Häufchen in der Hand, dann läßt sie vom Balkon aus eins nach dem andern herunterfallen auf die Mandarinenbäume darunter, und sieht ihnen nach, wie sie fallen, gleiten, sich drehen und daliegen wie offene kleine Schalen. Ihre kleine Stickschere, die sie in Berlin gekauft, liegt neben ihr, und sie nimmt sie zuweilen in die Hand und freut sich daran, wie spitz und scharf sie ist.
Es wohnen schlimme Gedanken hinter deiner weißen Stirn, Rosmarie!
Sie schreibt nun jede Woche ihrem Vater, sie erzählt vom Capo, von Palmen und Blumen, von Miß Granger, von dem italienischen Dienstmädchen, der Angelina, von allem, nur nie ein Wort von einer Rosmarie Brauneck.
An dem Fürsten nagt das Heimweh, je mehr sein Zorn verraucht. Seine Tochter fehlt ihm überall. Niemand kennt wie sie seine Hoffnungen und Pläne, und versteht sie, kann so