Der Wagen fuhr rasch dahin zwischen den prachtvollen alten Riesenbäumen, deren Zweige sich bis auf den Boden ausbreiteten. Cedrik wußte nicht, daß das Schloß Dorincourt einer der schönsten Landsitze Englands war und daß der Park und seine alten Bäume ihresgleichen suchten, aber er empfand die Schönheit, die ihn umgab. Die untergehende Sonne warf ihre schrägen Strahlen auf den Rasen, ringsum herrschte tiefe, wundersame Stille. Mehrmals fuhr der Knabe mit einem kleinen Aufschrei in die Höhe, wenn ein Kaninchen aus dem Blätterwerk huschte, und als plötzlich ein Volk Rebhühner vor ihnen aufstieg, klatschte er glückselig in die Hände.
»Hier ist's aber schön!« rief er. »So was habe ich nie gesehen. Es ist schöner als der Centralpark!«
Die lange Dauer der Fahrt setzte ihn sehr in Erstaunen.
»Wie weit ist es denn,« fragte er endlich, »vom Parkthor bis zum Schlosse?«
»Drei bis vier Meilen,« erwiderte Mr. Havisham.
»Einen langen Weg hat der Großvater bis zu seinem eignen Thore,« bemerkte der kleine Lord nachdenklich.
Jeden Augenblick entdeckte er etwas Neues, als er aber das Hochwild gewahrte, das teils im Grase lag, teils auf das Geräusch des Wagens hin die hübschen Köpfe mit den mächtigen Geweihen erhoben hatte, war er ganz außer sich.
»Ist denn ein Cirkus dagewesen,« rief er jubelnd, »oder leben die immer hier? Wem gehören sie?«
»Deinem Großvater,« belehrte Mr. Havisham.
Bald darauf kam das Schloß in Sicht. Der schöne, stolze Bau erhob sich grau und ehrwürdig vor ihnen, die letzten Strahlen der Abendsonne glitzerten auf den zahlreichen Fenstern. Giebel und Türme und Zinnen hoben sich klar vom Abendhimmel ab, der ganze Bau war von üppigem Epheu umrankt und auf den breiten Terrassen, die zum Eingang hinaufführten, waren reiche, farbenprächtige Blumenbeete.
»Das ist das Allerschönste, was ich je gesehen habe,« rief Ceddie mit leuchtenden Augen. »Wie ein Königsschloß, so war gerade eins in meinem Märchenbuche!«
Er sah, wie die schweren Thürflügel aufgerissen wurden, und sah die Dienerschaft in zwei Reihen antreten, was ihn sehr in Erstaunen setzte, da es ihm nicht in den Sinn kam, daß dies zu Ehren des kleinen Jungen geschah, dem einst all' diese Pracht und Herrlichkeit zu eigen sein würde – das Schloß aus dem Märchenbuche, die großen alten Bäume, der herrliche Park, die Gründe voll Farnkraut und Glockenblumen, wo die Hasen und Kaninchen umhersprangen und die großäugigen gefleckten Hirsche und Rehe, die im tiefen Grase lagerten. Kaum ein paar Wochen war es her, daß er in Mr. Hobbs' Laden gesessen hatte und seine Beinchen von dem hoben Schreibstuhle herunterbaumelten, und er konnte unmöglich all diese Pracht und Feierlichkeit auf sein kleines Ich beziehen. An der Spitze der Dienerschaft stand eine ältliche Frau in glattem, schwerem schwarzen Seidenkleide, mit einer Haube auf dem grauen Haare. Als er die Halle betrat, stand sie ihm zunächst und Cedrik sah ihr an, daß sie mit ihm sprechen wolle. Mr. Havisham, der ihn an der Hand führte, stand einen Augenblick still.
»Hier bringe ich Lord Fauntleroy, Mrs. Mellon,« sagte er. »Lord Fauntleroy, dies ist Mrs. Mellon, die Haushälterin.«
Cedrik gab ihr mit einem freudigen Aufleuchten die Hand.
»Haben Sie uns die Katze geschickt?« fragte er. »Ich danke Ihnen tausendmal dafür!«
Das hübsche Gesicht der alten Frau glänzte gerade so freudig wie das der Portiersfrau.
»Ich würde Seine Herrlichkeit an jedem Orte erkannt haben,« sagte sie zu Mr. Havisham, »er ist ja ganz und gar sein Vater. Das ist ein großer Tag heute, Sir.«
Cedrik sah sie neugierig an und hätte für sein Leben gern gewußt, weshalb gerade heute ein großer Tag sei. Noch befremdlicher war ihm, daß sie Thränen in den Augen hatte und doch offenbar nicht traurig war, denn sie lächelte ihn freundlich an.
»Die Katze hat zwei wunderhübsche Junge hier gelassen,« sagte sie, »man wird sie sofort auf Eurer Herrlichkeit Zimmer bringen.«
Mr. Havisham richtete halblaut eine Frage an sie.
»In der Bibliothek, Sir,« erwiderte Mrs. Mellon. »Der Lord Fauntleroy soll allein vorgelassen werden.«
Ein paar Minuten darauf öffnete der stattliche Livreebediente, der Cedrik zu der Bibliothek geführt hatte, die Thür derselben und meldete: »Lord Fauntleroy, Mylord.« Er that es mit besondrer Feierlichkeit, denn auch er fühlte, daß es ein großer Moment war, wo der Erbe sein Eigentum betrat und dem Familienhaupte vorgestellt wurde, dessen Rang und Besitz dereinst sein eigen werden sollte.
Cedrik schritt über die Schwelle. Es war ein großer, prächtiger Raum mit schweren, geschnitzten, eichnen Möbeln, die Wände bis hoch hinauf mit Büchergestellen bedeckt. Die Möbel waren so dunkel, die Vorhänge so schwer, die Fensternischen so tief und die Entfernung zwischen Thür und Fenster so groß, daß nun, nach Sonnenuntergang, der ganze Eindruck des Raumes ein düsterer war. Im ersten Augenblicke glaubte Cedrik, daß überhaupt niemand im Zimmer sei, entdeckte aber gleich darauf vor dem Feuer, das trotz des warmen Abends in dem riesigen Kamin brannte, in einem bequemen, Lehnstuhl eine Gestalt, die sich aber nicht nach ihm umwendete.
Bei einem andern Bewohner des Zimmers hatte er jedoch Aufmerksamkeit erregt. Neben dem Lehnstuhle lag an der Erde ein Hund, eine ungeheure braungelbe Dogge, fast so groß und gewaltig wie ein Löwe – majestätisch und langsam erhob sich das mächtige Tier und ging mit schwerem, wuchtigem Schritt auf die schlanke Kindesgestalt zu.
»Dougal,« erklang nun eine Stimme aus dem Lehnstuhle, »hierher.«
Allein dem Herzen des jungen Lord war Furcht so fremd wie alles Böse, und er war von jeher ein tapferer kleiner Geselle gewesen. Vertraulich und ruhig legte er sein Händchen an des Ungeheuers Halsband und dann schritten sie einträchtig miteinander auf den Grafen zu.
Endlich blickte dieser auf und Cedrik sah in das Gesicht eines großen alten Mannes mit wirrem, weißem Haar, buschigen Augenbrauen und einer kühnen Adlernase zwischen den feurigen, blitzenden Augen. Der Graf aber erblickte eine anmutige Kindergestalt in einem schwarzen Samtanzug mit breitem Spitzenkragen und weichen blonden Locken, die das frische, rosige Gesicht umrahmten, aus dem ein Paar großer brauner Augen ihm treuherzig entgegenleuchtete. Wie ein plötzlicher Jubelruf und ein frohlockendes Triumphieren zog's dem harten alten Manne durchs Herz, als er wahrnahm, was für ein kräftiger, schöner Knabe sein Enkel war, und wie unerschrocken er ihm ins Gesicht sah, die Hand noch immer auf dem Halse seines riesigen Hundes. Es that dem herrischen alten Edelmanne im Innersten wohl, daß der Junge keine Schüchternheit und keine Furcht verriet, weder vor ihm noch vor seinem Hunde.
»Bist du der Graf?« sagte Cedrik mit seinem freundlichen Lächeln. »Ich bin dein Enkel, den Mr. Havisham geholt hat – Lord Fauntleroy.«
Er streckte ihm dabei sein Händchen hin, was er für angemessen und höflich hielt auch bei Grafen. »Ich hoffe, es geht dir gut,« fuhr er herzlich fort, »und ich freue mich sehr, dich zu sehen.«
Der Graf schüttelte ihm die Hand und es zuckte wunderlich über sein Gesicht; fürs erste war er so überrascht, daß er kaum wußte, was er sagen solle. Er blickte unverwandt auf das hübsche kleine Bild, das da in Fleisch und Blut vor ihm stand.
»Du freust dich wirklich, mich zu sehen?«
»Gewiß,« versicherte Lord Fauntleroy, »sehr.«
Ein Stuhl stand neben dem des Grafen und Cedrik setzte sich. Das hochlehnige, breite Möbel war für ein andres Format von Sitzenden berechnet und die Beinchen des Kleinen reichten bei weitem nicht auf den Boden, allein es schien ihm doch ganz behaglich darauf zu sein und er blickte das ehrwürdige Familienhaupt bescheiden aber unverwandt an.
»Ich habe mir immer Gedanken gemacht, wie du wohl aussehen würdest,« begann er wieder. »Auf dem Schiffe, wenn ich so in meinem Bette lag, habe ich immer gedacht, ob du wohl meinem Papa ähnlich siehst.«
»Nun, und findest du das?« fragte der Graf.
»Ach, du weißt ja,