Das Kind stieß einen schrillen Entzückensschrei aus und stürzte ins Zimmer hinein, jedenfalls um die Nachricht los zu werden.
»O weh,« sagte der Herr Stiftsprediger, als sie hinausgingen, »nun haben Sie ein Unglück angerichtet, meine kleine Erika glaubt Ihnen und wird sich die Augen nach Ihnen aussehen. Darin ist sie ein schreckliches Kind, keine Erfahrung macht sie klug.«
»Halten Sie mich für so schnöde, Herr Stiftsprediger, daß ich mein Wort nicht hielte! Bei den kleinen Herrschaften muß man sich eben so strenge an den Ehrenkodex halten. Da habe ich mit der kleinen Prinzessin, mit meiner Frau, meine Erfahrungen gemacht. Ich komme morgen vorbei.«
Und in den nächsten Wochen hatten die Braunecker das interessante Schauspiel, wie die kleine Erika feierlich mit gespreizten dünnen Beinchen und wehendem Schopf auf dem Braunen saß und bis zur Kirche reiten durfte und wieder zurück.
Als sie an Rosmaries Zimmer kamen, bat Harro den Herrn Stiftsprediger, noch einen Augenblick zu warten, da er seine Frau eben auf den Lindenstamm bringen wolle. So wandelte denn der geistliche Herr auf den Galerien auf und ab, bis ihn Harro holte.
»Herr Stiftsprediger, meine Frau möchte allein mit Ihnen sprechen. Sie sagt, das sei sie so gewöhnt. Gehen Sie nur geradezu.«
Rosmarie lag auf dem Lindenstamm unter ihrer Linde, und obgleich der Herr Stiftsprediger noch nie ein so schönes Augenspiel gesehen hatte, berührte es ihn doch peinlich. Diese in den Farben fein abgestimmten Kissen konnten sich unmöglich von selbst so zusammengefunden haben. Auch lag sie nicht da, wie man eine Schwerkranke bettet, sondern vielmehr wie das schöne Haupt sich am lieblichsten darbot, die Falten ihres mattglänzenden Gewandes waren so künstlerisch geordnet, und eine der schweren goldenen Flechten hing bis auf den Boden herab über einen grünseidenen kleinen Teppich, dessen Grund man eigentlich nicht einsah. Aber die schönen sanften Augen versöhnten ihn wieder.
Sie freute sich und sah doch ängstlich und bedrückt aus. Zuerst schickte sie ihn überall herum, nach den Türen zu sehen, ob die geschlossen seien, und in den Hof hinunter, ob der leer sei.
»Ich möchte allein mit Ihnen sprechen. Ich möchte es so lange schon, aber sie wollten es nicht.«
»Durchlaucht waren noch zu krank... ich wäre sehr gern gekommen.«
»Ich weiß es, Herr Stiftsprediger, es ist so furchtbar schwer, was ich sagen muß. Immer dachte ich an Sie und wie gut Sie mir raten könnten; ich habe es nicht vergessen, wie Sie mir in meiner Not geholfen haben. Nun bin ich in der bittern Not.« Er sah sie mit seinen stillen Augen an und sagte einfach: »Es ist ein harter Kampf, Durchlaucht, und doch...«
Sie sah ihn gequält an. Ach, wie alles von ihr abfiel, was er vorhin an ihr zu sehen glaubte... Die Seele schaute ihn an, die bedrängte Seele.
»Durchlaucht, was ist es, was Ihnen besonders schwer fällt?«
»Oh, Herr Stiftsprediger, meine Lieblosigkeit, mein alter Haß und meine Feigheit. Ich habe meiner Mutter da oben das alles angetan – ich habe sie gehaßt, ich habe keinen Funken Liebe für sie gehabt, ich habe sie so weit gebracht, wie sie jetzt ist. Nicht ich allein, Herr Stiftsprediger, aber ich mit. Ich bin so lange neben ihrem Leiden hergegangen und bin mir wunder wie edel und großartig vorgekommen, daß ich geschwiegen habe...«
»Durchlaucht haben es immer gewußt?«
»Sie, Herr Stiftsprediger, Sie wissen?«
»Ein geängstigter Mensch kam zu mir noch am Abend desselben Tages. Er war vollständig unschuldig, nur seine Mitwisserschaft brachte ihn zur Verzweiflung, er hätte die entsetzliche Tat vielleicht gar nicht hindern können. Ich bin nicht befugt, von dem zu reden, was mir in dieser Weise anvertraut wird. Doch hätte ich meinen Einfluß auf ihn benützt, um ihn zu bewegen, es dem Fürsten zu sagen, wenn die Fürstin nicht erkrankt und dadurch unschädlich gemacht worden wäre. Und Sie, Frau Gräfin, haben es immer gewußt? Wie ist das möglich?«
»Ich sah sie ja... ich schwieg, weil ich wußte, daß das meinen Vater mit entsetzlichem Schmerze treffen würde. Auch mein Mann weiß nichts. Ich habe mich oft gewundert, daß sie so ahnungslos sein können, ich bin so dankbar dafür. Mein Mann erträgt es auch noch nicht. Sie, Herr Stiftsprediger, Sie werden auch schweigen, aber ich will von neuem das Geheimnis in Ihre gütige Hand geben. Es kann doch sein, wenn ich nicht mehr da bin und niemand mehr da ist, der davon weiß, und wenn Mama, wie sie bisher getan, immer weiter ihr Herz verstockt, dann müßte auch mein Vater vor ihr geschützt werden. Und sie darf nie wieder mit einem Gewehr herumgehen. Das ist's, was ich Sie bitten wollte.« »Ich hatte,« erwiderte er, »mit der Fürstin gesprochen, ob sie sich nichts denken könne, was ihren jetzigen Zustand verschuldet hat, und habe ihr den Spruch nahegelegt: ›Da ich es verschweigen wollte, verschmachteten meine Gebeine.‹ Sie hat mich wohl verstanden, aber sie brach nur in wilde Anklagen gegen andere aus.«
»Gegen mich, Herr Stiftsprediger. Ich weiß, und sehen Sie, das ist es, was mich auf einmal überfallen hat. Meine Schuld, meine große Schuld. Ich habe nie ein bißchen Liebe für Mama in mir auftreiben können, alles, was ich tun konnte, war, daß ich meinen Haß begrub. Sie wissen, Herr Stiftsprediger, daß das zu wenig ist. Und nun hätte ich mich erbarmen müssen, wer denn sonst als ich! Und ich bin dort in meinem Goldhaus geblieben und habe mit mir geschachert von Tag zu Tag. Ich wußte ja, wenn ich hierher käme, würde ich nie wieder zurück können. Wenn ich Mama wirklich eine Liebe tun wollte, so konnte das doch nur geschehen, indem ich ihr Geduld zeigte. Nicht heute kommen und morgen genug haben. Sondern immer wieder aufs neue ihr zeigen, solang ich noch Kraft habe. Ich bin da, und ich habe endlich, endlich entdeckt, was ich ihr schuldig geblieben bin. Aber, Herr Stiftsprediger, das Fortgehen von meinem Goldhaus war so schwer. Mein ganzes Leben! Mich umdrehen, die Türe zumachen, zu all dem lieben, schönen Leben...«
»Durchlaucht,« bat er sanft, »erregen Sie sich nicht. Sie haben es getan, Sie sind herübergekommen. Ich weiß ja, wem Sie nachgegangen sind. Und man soll Sie nicht hindern, zu tun, wozu Sie Ihr Herz treibt. Es wird Ihnen auch nicht schaden, viel weniger als diese Erregung darum. Ich werde versuchen, mit dem Herrn Grafen zu reden.«
»Herr Stiftsprediger, Sie vergessen nicht.«
»O nein, Durchlaucht, ich darf ja gar nicht. Aber nehmen Sie Ihrem Manne, Ihrem Vater nicht zu viel von Ihrer Kraft, Ihrer Zeit. Das, was vergangen, von dem dürfen Sie im Glauben annehmen: Er wird meine Sünde nehmen und sie hinter sich werfen ins tiefste Meer. Und jetzt lassen Sie noch Ihre Güte scheinen auf die verlorene Seele, vielleicht retten Sie sie noch. Wenn es irgend möglich, so möchte ich, daß Ihre Güte doch nicht immer mißverstanden bleibt. Wir geben ihr noch einmal die Wahl, Frau Gräfin. Und wenn ich Ihnen einige Ratschläge geben darf.«
Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, und er faßt sie sanft und hält sie fest in seinen dünnen, warmen Händen. »Reden Sie nur ganz freundlich von dem Leiden der Frau Fürstin, bleiben Sie nie länger als zehn Minuten, Sie dürfen die Ihrigen nicht berauben, Frau Gräfin, um jener Unglücklichen willen. Daß Sie sich nicht erbittern lassen werden, weiß ich. Sie machen, wann es Ihre Kräfte gestatten, einen einfachen Krankenbesuch und reden gar nichts Aufregendes. So kann man es vielleicht sogar vor dem Herrn Hofrat verantworten. Ihre Nähe wirkt schon, Ihre sanfte Nähe. Wenn Sie müde werden, gehen Sie gleich. Sie muß fühlen, warum Sie kommen, so verhärtet ist kein Mensch. Und nun lassen Sie mich gehen, Frau Gräfin, ich komme wieder, ich darf dem Herrn Grafen seine Zeit auch nicht rauben.«
Er ging und Rosmarie sah ihm nach – so erlöst und dankbar. Wie er hinauskam, sah er, daß der Graf, seinen kleinen Sohn neben sich, auf ihn wartete. Er warf einen blitzschnellen Blick auf seine Uhr und sein Gesicht klärte sich etwas auf.
»Troll dich, Heinz,« sagte er. »sieh dort ist Großvater!«
Er führte ihn in den Ehrensaal, wo die große Wand stand.
»Nein, Herr Graf, ich hoffe, daß die Besuche nicht schaden werden. Frau Gräfin wird Sie über die Art benachrichtigen, wie wir es vereinbart haben. Es ist ja so unendlich schwer zu sagen, was zu verbieten und was zu erlauben ist. Manchmal schadet man