Plötzlich kam ein unterdrückter Aufschrei über seine Lippen. Ja, da lag ein Toter, schon schwer erkennbar, aber es musste Uli sein. Er hatte eines der wild gemusterten Hemden an, die dieser so gern getragen hatte.
Noch starrte Korbinian auf den Toten, als er plötzlich von hinten einen harten Schlag bekam und das Gleichgewicht verlor.
»Dir werd’ ich’s geben, mir nachzuschnüffeln«, hörte er nur noch, dann gab es für ihn kein Halten mehr, er stürzte in den Abgrund, der sich direkt hinter der Fichte auftat.
Hinter ihm erklang ein schauriges Lachen, dann das Poltern von Steinen. Der alte Wurzinger deckte den Toten damit wieder zu.
Korbinian hatte sich auf halber Höhe der Schlucht an wildem Gestrüpp festhalten können. Er umklammerte es in Todesangst. Zu gut wusste er, was passieren würde, wenn er losließ.
Er ermahnte sich zur Ruhe und hangelte sich zu einem Felsvorsprung, auf dem er einen besseren Halt fand. Als geübter Bergsteiger hätte er es schaffen können, wieder hinauf auf das Plateau zu kommen, auf dem die Schutzhütte stand. Doch wollte er das? Nein, der alte Wurzinger, den er zwar nicht gesehen, aber an der Stimme erkannt hatte, sollte meinen, dass sein Plan gelungen und Korbinian tot war. Wenn er wüsste, dass Korbinian lebte, würde er ihm erneut nach dem Leben trachten. Also hieß es abwärts steigen. Das versuchte er Schritt um Schritt. Bei dem Sturz musste er sich Prellungen und eine Kopfwunde zugezogen haben. Er konnte sich nur schwer bewegen, nie ohne Schmerz, und er spürte, dass ihm Blut über die Wange lief. Aber jetzt nur nicht aufgeben. Der Wurzinger musste vor Gericht gestellt werden.
Er sollte die längste Zeit da oben sein Unwesen getrieben haben. Und Stepherl musste sich bei Franzi wieder erholen. Einem Großvater, der einen Mord auf sein Gewissen geladen hatte, würde man den Jungen keine Stunde länger lassen.
Es vergingen Stunden, bis Korbinian auf dem Grund der Schlucht angelangt war. Er kannte diese Gegend nicht und musste auf gut Glück versuchen, aus der Schlucht herauszukommen. Als er an einen Wildbach kam, entschloss er sich, seinem Lauf zu folgen.
Endlich fand er aus den Felsen heraus und kam auf einen Steig, der vielleicht von Jägern oder Touristen benutzt wurde. Er ging ihn weiter, bis er eine Kirchturmspitze sah und gleich danach einen kleinen Ort.
Dort kehrte er in einem Wirtshaus ein, um eine Rast zu machen und sich zu erkundigen, wo er sich eigentlich befand. Dass es die österreichische Seite des Karwendels war, dessen war er sicher.
In der Wirtsstube kam eine ältere Frau erschrocken auf ihn zu. »Was ist Ihnen passiert?«, fragte sie und zeigte auf seinen Kopf.
»Ich bin gestürzt«, log Korbinian.
»Da muss ich aber sofort mit Jod und einem Verband dran.«
Die energische Frau war schon verschwunden. Als sie zurückkam, versorgte sie Korbinians Kopfwunde und brachte ihm eine heiße Suppe. Er war froh, dass er sie bezahlen konnte. Seinen Geldbeutel hatte er bei sich. Der Rucksack aber war in der Schutzhütte zurückgeblieben. Doch was machte das jetzt aus! Er erfuhr, dass er in der Nähe von Scharnitz war. Da wusste er schon Bescheid. Von Scharnitz aus konnte er mit dem Zug hinüber nach Deutschland und somit nach Hause fahren.
Er verweilte nicht lange in dem Wirtshaus. Er musste sich beeilen, um den alten Wurzinger anzuzeigen und Stepherl zu retten. Dass ihm sein ganzer Körper schmerzte und die Stirnwunde wie Feuer brannte, störte ihn nicht. Er atmete erleichtert auf, als er im Zug saß.
Die Zeit verging ihm viel zu langsam, bis er eine Station vor seinem Heimatort aussteigen konnte. Dort wollte er gleich zur Polizei.
Was er zu berichten hatte, stieß auf offene Ohren. Polizisten von diesem Revier hatten sich ja auch auf die Suche nach Uli gemacht, ohne eine Spur von ihm zu finden. Der Wachtmeister verständigte das Gericht und seinen Vorgesetzten. Von ihm bekam er Order, sofort dem nachzugehen, was Korbinian gesehen haben wollte. Bevor er ging, bat er: »Bringt den kleinen Stepherl gleich mit. Er darf nicht länger dort oben bleiben.«
Die Polizisten versprachen es ihm. Er aber fuhr noch die eine Station, um von dort aus in den Rehwinkel aufzusteigen. Franzi musste als Erste erfahren, was er nun wusste.
*
Der alte Wurzinger war sicher, dass er auch den zweiten Stettnersohn in den Tod befördert hatte. Was kümmerte es ihn, wenn man unten in der Schlucht einen Toten fand? In jedem Jahr stürzten viele Wagemutige hier in den Bergen ab. Schließlich konnte er auf seine Gäste nicht aufpassen. So leicht machte es sich der Alte, wenn es darum ging, Schuld auf andere abzuladen und von sich wegzuschieben. Er legte sich in aller Gemütsruhe noch einmal ins Bett. Er hatte sich genug Zeit um die Ohren geschlagen, um beobachten zu können, ob Korbinian etwas unternahm. Dabei hatte er freilich nur daran gedacht, dass man ihm Stepherl wegholen wollte. Wieso Korbinian den toten Uli hatte ausgraben wollen, darüber dachte der alte Wurzinger erst nach, als er am späten Vormittag aufstand und ihm Zenza ein fettes Frühstück auf den Tisch stellen musste.
Jetzt fragte sie: »Was ist mit diesem Franz? Will er denn nicht aufstehen? Er hat doch gestern Abend gesagt, dass er heute in der Früh weiter will.«
»Ha, ha, Franz!«, schrie der Alte giftig aus. »Ein Stettner war das. Ich bin durch den Buben dahintergekommen. Der sagte nämlich ›Onkel Korbi‹ zu ihm. Das konnte ja nur Korbinian heißen, und das ist der Bruder von Uli.«
»Was du nicht sagst!« Zenza griff sich an den Kopf. »Warum hat er sich dann unter einem falschen Namen hier eingeschlichen?«
»Ja, warum wohl?« Er musterte Zenza misstrauisch. »Hast du vielleicht doch deinen Schnabel nicht gehalten und mit ihm geratscht, als ihr so lange in der Kammer wart?«
Plötzlich sprang der Wurzinger auf und packte grob Zenzas Schultern. »Natürlich hast du mich verraten. Du hast von Uli geredet, sonst hätt’ dieser Korbinian nicht nach dem Toten graben können.«
»Um aller Heiligen willen«, Zenza stöhnte, »hat er das getan?«
»Ja, aber er kann nicht mehr darüber reden, was er gefunden hat …«
Zenza flüchtete an die Tür. Dort blieb sie stehen und stammelte: »Jessas Maria, du wirst doch nicht auch ihn …« Sie konnte nicht weiterreden, so verwirrt und verängstigt war sie.
»Lass das meine Sach’ sein und verschwind«, schrie sie der Wurzinger an. »Der Bub bleibt heute oben in der Kammer, und dich will ich auch nicht mehr sehen.«
»Ich geh’ ja schon, ich geh’ ja schon«, stotterte Zenza – und draußen war sie, heilfroh, dass keine Gäste in der Hütte waren. Von diesem Schreck, da war sie ganz sicher, würde sie sich nie wieder erholen. Wenn der Wurzinger auch den zweiten Stettnersohn aus der Welt geschafft hatte, dann war sie daran schuld. Sie hätte ihm nichts von Ulis Tod erzählen sollen, schon gar nicht, wo er begraben worden war.
Sie atmete auf, als der Wurzinger das Haus verließ und nur laut schrie: »Ich geh’ zur Nani.«
*
Es war später Nachmittag, als der Wurzinger zurückkam. Inzwischen hatten sich noch drei Gäste eingefunden, die über Nacht bleiben wollten. Zenza bediente sie, während Stepherl wieder in der Kammer hocken musste.
Plötzlich fragte einer der Gäste, der gerade vor der Hütte gewesen war: »Was graben denn die Polizisten bei der Fichte dort drüben?«
Der Wurzinger zuckte zusammen, als habe ihn ein elektrischer Schlag getroffen. »Wer …, was …, wer gräbt?«, stotterte er und rannte hinaus.
Da kamen ihm die Polizisten schon entgegen. »Sie sind doch der Wurzinger-Rupert, ich kenn’ Sie«, sagte einer von ihnen.
»Ja und?«, wurde er mit gespielter Ruhe gefragt, obgleich dem Wurzinger die Schweißperlen auf der Stirn standen.
In