Die Tür des Zimmers stand offen.
Die Zwillinge saßen breitbeinig auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, links und rechts vom Fenster. Zwischen den Beinen, auf den Griff abgestützt, hielt jeder der Zwillinge ein Sturmgewehr.
Modifizierte Kalaschnikows, die bevorzugte Waffe der Gangs. Robust, buchstäblich kinderleicht zu bedienen, an jeder Straßenecke zu haben und körperpanzerbrechend.
Zwei weitere Gewehre lagen vor ihnen auf dem Boden, daneben Haufen von Ersatzmagazinen. Eines der Betten war zur Seite geschoben. Drei Dielen waren gelöst und lagen an der Wand, gaben die Sicht auf die hohle Zwischendecke frei. Das Versteck der Zwillinge.
Wie hatte er nur so blind sein können?, fragte sich Marshall. Sue hatte recht gehabt, er hätte die Zwillinge längst aus dem Shelter verweisen müssen.
Tyler rauchte eine Zigarette, sog den Rauch in langen Zügen ein. Wie ein Mann, der eben eine schwierige Arbeit hinter sich gebracht hat und sich nun eine Belohnung gönnt.
»Tyler! Damon!«, rief Marshall. »Was macht ihr da?«
Tyler blies den Rauch der Zigarette aus, reichte sie unter dem Fenstersims hindurch an seinen Bruder. »Lass uns in Ruhe! Das kapierst du nicht, alter Mann.« Der Heilige Christophorus baumelte an seinem Hals. Das Amulett glänzte. Der Junge hatte eine stählerne Kette daran befestigt, damit der Heilige ihn niemals wieder im Stich ließ.
»Unterschätzt mich nicht! Was kapiere ich nicht?« Kapiert ihr, was ihr getan habt?, fügte er in Gedanken hinzu. Ihr habt einen Menschen ermordet!
»Die Cops wollen uns holen. Sie dürfen uns nicht holen.«
»Die Polizei ist nicht euretwegen gekommen!«
»Behauptet sie.«
»Das ist so! Die Polizei ist wegen Sid hier. Sie haben es mir gesagt!«
Damon reichte die Zigarette zurück. »Und du glaubst den Cops? Du bist zu gut für diese Welt, alter Mann. Wer schert sich schon um Sid González? Die Cops wollen uns. Aber sie kriegen uns nicht.«
»Sie wollen Sid! Das hier ist ... ist unnötig!«
Tyler zuckte die Achseln. Er hob einen Arm, deutete mit dem Daumen auf die Straße, auf der die Polizei aufmarschiert war, wo Deborah lag, die sie ermordet hatten. »Zu spät.«
»Ihr ... ihr ...« Marshall brach ab. Es war sinnlos. Er spürte es. Etwas war in den Zwillingen gebrochen. Eine Sperre. Es gab kein Zurück mehr. Sie ...
Jemand drückte sich an Marshall vorbei in den Raum. Sue. Sie baute sich vor den Zwillingen auf, stemmte die Arme in die Hüften. »Ihr zwei kommt euch wohl ganz groß vor mit der Kippe und euren fetten Knarren, was?«
Tyler, der gerade an der Zigarette zog, hustete.
»Aber wisst ihr was?«, fuhr Sue fort. »Ihr tut nur so! Groß ist nicht, wer raucht und Leute umbringt. Groß ist, wer keine Knarre braucht, um sich groß zu fühlen! Groß ist, wer nicht bei jedem Mist, der ihm gegen den Strich geht, denkt, dass die ganze Welt sich gegen ihn verschworen hat! Groß ist, wer rechtzeitig die Klappe aufkriegt, anstatt anderen Leute eins auf die Klappe zu geben! Groß ist, wer ...«
Der Rest des Satzes ging in einem Prasseln unter. Wie Hagel, nur viel, viel lauter und härter. Es waren Kugeln. Die Polizisten hatten das Feuer eröffnet, beharkten den Shelter mit ihren automatischen Waffen.
Der Hagel dauerte nur einige Momente. Marshall mutete es an wie eine kleine Ewigkeit.
Dann war Stille.
Atemlose Stille.
Der scharfe Geruch von Pulver trieb durch das geöffnete Fenster in das Zimmer, vermischt mit einem Unterton von Moder. Er musste von dem abgeplatzten Außenputz stammen.
Tyler sagte: »Haut ab, solange ihr noch könnt! Es ist zu spät.« Er zog an der Zigarette und warf den Stummel achtlos zur Seite.
Sue rührte sich nicht vom Fleck. Sie stampfte wütend auf. »Es ist nie zu spät! Die Cops haben mit Absicht nur gegen das Haus geballert! Das ist ein Zeichen. Ihr habt keine Chance gegen sie! Gebt auf!«
»Mein Bruder hat gesagt, du sollst abhauen, Krüppel!«, flüsterte Damon.
Krüppel. Sue lief rot an vor Wut. »Wer ist hier ein Krüppel? Die mit dem Armstumpf – oder die mit dem Schlag am Kopf? Ihr ...«
Damon hob das Gewehr, zielte auf das Mädchen und drückte ab.
Eine Handbreit neben Sues Kopf zerplatzte die Wand. Putzfragmente spritzten nach allen Seiten, bohrten sich wie Glassplitter in Marshalls rechten Arm.
Sue stand einen Moment da, den Mund weit aufgerissen. Eine Hälfte ihres Gesichts war weiß vom Putzstaub, wie das einer geschminkten Geisha. Aus dem Weiß wurde rosa, als das Blut aus den winzigen Wunden strömte, die die Putzfragmente gerissen hatten, und sich mit dem Staub vermischte.
Es war zu viel für sie.
Sue schrie auf, wirbelte herum und rannte hinaus, die Treppe hinunter.
Marshall rannte ihr hinterher. Es gab nichts mehr, was er bei den Zwillingen hätte ausrichten können.
Er kam nicht weit.
Eine Kugel bohrte sich in eine Schulter, bohrte sich in John Marshall.
Er schrie auf, griff sich an die Schulter. Dort, wo er glaubte, dass das Projektil seinen Körperpanzer durchschlagen hatte.
Marshall stolperte, fing sich im letzten Moment ab.
Eine zweite Kugel bohrte sich in seinen Bauch. Glut brandete in Marshall auf, ließ ihn bei lebendigem Leib verbrennen.
Eine dritte Kugel. Marshalls Schädel platzte, dann war der Schmerz schon wieder vorbei.
Marshall bäumte sich auf, hielt irgendwie das Gleichgewicht.
Eine vierte Kugel. In den Oberschenkel. Marshall krümmte sich vor Schmerzen. Seine Hand, die nach dem Geländer langte, griff ins Leere. Sich überschlagend stürzte Marshall die Stufen hinunter, schlug keuchend auf den harten Fliesen des Erdgeschosses auf.
Sue hatte sich in die Nische gepresst, die man für den Fernsprecher gebaut hatte, den die großzügigen Eigner der Imperial Sugar Company einst ihren Arbeitern zur Verfügung gestellt hatten. Sue hatte die Beine angezogen, den gesunden Arm und den Stumpf um die Knie geschlungen und heulte haltlos. Das Mädchen bemerkte Marshall nicht.
Zu viel. Einfach zu viel.
Die Schmerzen. Das Leid. Das Sterben. Es musste aufhören. Irgendwie. Um jeden Preis.
Marshall wuchtete sich hoch. Er riss die schwere Eingangstür auf. Draußen warf die Sonne lange Schatten, verlieh das warme Abendlicht der Szene einen unpassend sanften Ton.
Er riss die Arme hoch und ging die Treppe hinunter zum Gehweg.
»Aufhören!«, brüllte er. »Hört sofort auf!«
Marshall ging auf die Straße, den Streifenwagen entgegen. Langsam. »Hört auf!«, rief er immer wieder. »Hört auf!«
Die Schüsse erstarben.
Marshall ging weiter. »Was tut ihr nur? Spürt ihr nicht das Leid?«
Bei der Leiche Deborahs blieb er stehen. »Das Leben ist unersetzlich. Es ...«
Ein Schuss.
Eine Kugel bohrte sich in Marshalls Wade. Er sackte weg.
Nein!, dachte er. Steh auf! Es ist nicht deine Wunde, nicht dein Schmerz!
Er zwang die Hand weg von der Wade, hielt sie vor das Gesicht, um sich selbst zu beweisen, dass es nicht seine Wunde war, die er spürte.
An den Fingern klebte Blut.
Sein Blut.
»John!« Sue nahm mit einem Satz die