Cäcilie weinte laut in den Armen des Sterbenden – Weitenweber drückte die geballte Faust auf die Brust – vergebens rang ich nach Atem, nach Luft.
Jetzt ließ der Alte die Jungfrau wieder frei; aber ihre Hände behielt er fest in den seinigen. Die letzten Strahlen der in den winterlichen Dunstmassen des Horizonts versinkenden Sonne leuchteten über den Kirchhof der Stadt Finkenrode und röteten zum letzten Male das Gesicht des Kindes von Finkenrode, welches ausgezogen war, das Ideal zu suchen, und welches nun dicht vor dem geheimnisvollen Vorhang stand, der es uns allen verbirgt.
»Ich gehe nun!« sagte der alte Wallinger leise, »ich gehe mit der Sonne, mit der schönen Sonne, die ich so lange Jahre nicht gesehen! Weine nicht, Kind – o weine nicht! Gott schenke dir ein friedliches, stilles Leben und einen Tod wie den meinigen! Kind, Kind – es ist bös von mir, daß ich dich hier festhalte, da ich dich nicht ganz mit fortnehmen kann – o geh! geh! Ich weiß nicht, wo und wie du lebst; o mögen viel Rosen und Lilien vor deinem Fenster blühen und die Vögel dich abends in den Schlaf singen und dich am Morgen mit ihren schönsten Liedern wecken! Geh – geh!«
»Laß mich, o laß mich hier bei dir bleiben!« schluchzte Cäcllie.
»Ich sehe die Sonne nicht mehr,« sagte der Alte. »Was für ein Jahr schreibet ihr jetzt, ihr Menschenkinder?«
Es ward dem Sterbenden gesagt, und er legte sinnend die Hand auf die Stirn. »Da ist eine lange Zeit vergangen wie eine kurze Nacht – was treiben die Geschlechter der Menschen jetzt auf Erden?«
»Sie freien und lassen sich freien! Es ist, wie es war und wie es sein wird! Geht zur Ruh, Wallinger!« sagte Weitenweber.
»Wie steht es im deutschen Land?«
»Es ist, wie es war! Auf derselben Stelle halten wir Schule für die Völker, die da kommen und gehen. Fühlende, denkende – zweifelnde Millionen quälen sich auf derselben Stelle, gleich unfähig zum Glauben, zur Liebe wie zum Haß, unfähig deshalb, Ein großes Volk zu sein.«
»Und die großen Männer in der Nation?« »Tritt zu ihnen droben, Günther Wallinger, und sag ihnen, daß wir Götzendienst mit ihren Knochen treiben und Ketten schmieden in den Erzgruben, die sie uns aufgedeckt haben, Becher der Wollust aus den Gold-und Silberschätzen gießen, zu denen hinab sie den Weg gefunden und den Schacht gegraben haben!«
Ein Lächeln, still und friedlich, spielte auf dem Gesichte des Sterbenden. Seine Augen hatten sich geschlossen, seine Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig; – er schlief! Was hatte er mit den Worten des Redenden zu tun? Die alte Janna betrachtete aufmerksam seine Züge; sie nahm leise seine Hand aus der Cäciliens:
»Sprecht nicht mehr zu ihm!« sagte sie. »Der Tod tritt ihm zum Herzen. Sprecht zu Euren Engeln, daß sie kommen und ihn hinauftragen in den schönen Garten zu dem alten Mann, von dem die Kinder da unten erzählen. Die Geige hat er dem Martin versprochen!« – – –
Die Sonne war lange untergegangen, aber der Mond stieg in voller Pracht empor an dem kalten Winterhimmel, als ich die betäubte Cäcilie heimführte durch die Gassen von Finkenrode. Weitenweber war bei dem Kranken geblieben und lauschte an der finstern Pforte des Todes und legte das Auge an das Schlüsselloch – Weitenweber wollte dem alten Günther Wallinger die Augen zudrücken! …
20
Hinein! hinein in den blitzenden, leuchtenden Wintermorgen! Es klingeln die Glöckchen des Pferdegeschirrs, es blicken die Leute von Finkenrode aus den Fenstern uns nach. Das Lachen des Forstmeisters schallt herzerfrischend über den Markt, als Christoph dem Hauptmann Fasterling und der holden Sidonie einen Morgengruß zuklatscht. Der Schauspieler Mietze begegnet uns in einem kleinen Trab, er ruft Hurra und winkt mit dem Hut – die nächste Ecke entzieht ihn unsern Blicken; zwanzig Hunde umklaffen uns; die Kinder in den Haustüren und an den Fenstern jubeln. Vorwärts! vorwärts! hinein in den bereiften Wald! – Noch einmal erblicken wir, wenn wir uns umsehen, die beiden Türme der Martinskirche – und dann ist die alte kleine Stadt hinter uns versunken – versunken das Haus Bösenberg mit seinem Moderduft, versunken alles, was das Herz quält und drückt und ängstet! Ein morgenfrisches Wehen geht durch die Wipfel der Bäume und schlägt klingend die überreiften Zweige aneinander; – mögen die Toten ihre Toten begraben, mag Weitenweber den Sarg für den toten Musikanten zimmern lassen – lustig hinein in die lebendige, lustige Welt, dem Himmelreich zu!
Der Forstmeister und Cäcilie haben den Rücksitz eingenommen, ich habe meinen Platz ihnen gegenüber gefunden.
»Aufgeschaut, aufgeschaut, Fräulein Gevatterin!« rief der Forstmeister. »Ist das ein Gesicht für eine Gevatterfahrt?« Und der Alte griff nach dem Waldhorn, welches er mit sich führte, nahm für einen Augenblick die kurze Jägerpfeife ans dem Munde und blies einen hellen Jagdgruß in den Wald hinein.
Trara! trara! Das Echo gab aus allen Bergtälern den fröhlichen Schall zurück; Cäcilie hob ein wenig den grünen Schleier, welcher ihr schönes Gesicht bis jetzt verdeckt hatte. Sie atmete tief und schwer auf und strich mit der Hand über die bleiche Stirn.
»O wie schön!« sagte sie. »Ist der Wald nicht wie verzaubert? O horcht und seht!«
»Mußte dich ja wecken aus deinem Traume, Kindlein!« rief der alte Forstmann fröhlich. »Hurra, fort mit allen bösen Gedanken – laß sie da unten in ihrem Krähwinkel treiben, was sie wollen und mögen – wir sind alle Gott einen Tod schuldig! So ist’s recht – zieh den Vorhang ganz auf – ‘s ist was Schönes um den Morgenwind – schau, da geht ein Fuchs, Trararara, trara! – Wie freu’ ich mich auf das Käthchen, auf den Jungen, auf den Konrad, auf den Pastor, auf alles – Hurra – Trararara!«
Ein mutwilliger Tannenzweig schüttelte seine Schneelast in diesem Augenblick auf uns herunter und hing leuchtende Funken an unsere Gevattersträuße, zu denen die Frau Agnes ihre schönsten Blumen hergegeben hat. Immer tiefer, tiefer hinein in den Wald! Wie der Schall des Waldhorns sich in den Bergen und Wäldern verliert, so verliert sich allgemach der beängstigende Nachhall der vergangenen Nacht.
»Er ist eingeschlafen wie ein Kind!« sagte Cäcilie: ich aber warf eine Rosenknospe dem blauweißen, wolkenlosen Januarhimmel zu:
»Die