Um vier Uhr nachmittags machte ich mich auf den Weg, um dem Notar Rettig meine Ankunft anzuzeigen. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, und ich fühlte mich innerlich und äußerlich erwärmt genug, um mich in die Strudel des sozialen Lebens der Stadt Finkenrode zu stürzen; kürze aber diesen Abschnitt meiner Memoiren soviel als möglich, weil voraussichtlich der folgende gewaltig genug anschwellen wird von der Masse der eindringenden Ereignisse, und weil den schönen, aber ungeduldigen Leserinnen gegenüber eine Erörterung und Besprechung der juristischen Seite meiner Erbschaftsangelegenheit nicht an Ort und Stelle wäre. Nachdem mir das Glück und die Ehre zuteil geworden war, die Bekanntschaft der Familie Rettig zu machen, verfügte ich mich mit dem Notar in das Geschäfts-und Studierzimmer des letzteren, aus welchem ich gegen Abend mit etwas Anlage zum Kinnbackenkrampf wieder hervorschritt. Am Montage sollte ich Besitz nehmen von der Hinterlassenschaft meines seligen Oheims.
Es war fast Nacht geworden, als ich wieder auf die Straße hinaustrat. Leichtfüßig schlüpfte ich durch die dunkeln Gassen von Finkenrode, die mir noch bekannter waren, als ich gedacht hatte, dem Hause Bösenberg zu. Eine gute Welle gaffte ich nach den schwarzen Massen des Gebäudes hinüber, in welchem kein freundliches Licht die Anwesenheit menschlichen Lebens andeutete. Ich fühlte mich beklommen, ein Gefühl der Furcht beschlich mich: schöne Leserin, es war gottlob nicht der Trieb nach Besitz, der meine Pulse schneller klopfen machte.
»Wir werden gewiß Frost bekommen,« sagte der Wirt, der mich auf mein Zimmer geleitete, aus welchem ich an diesem Abend nicht mehr hervorkroch. Stundenlang schritt ich, die Hände auf dem Rücken, auf und ab, und die bekannten, tiefen, vollen Glocken der Martinikirche klangen wehmütig mahnend in meine Gedanken hinein. Ich schlief einen sehr unruhigen Schlaf während der ersten Nacht, welche ich in meiner Vaterstadt Finkenrode zubrachte, hatte jedoch am andern Morgen durchaus kein deutliches Bild von dem, was alles an mein Kopfkissen herangetreten war. Alles ein verworrenes, unklares, schattenhaftes Gemisch von Tönen und Gestalten, bald fremd, bald bekannt! –
5
Anders erwacht man im Schatten des Theatergebäudes zu ***; anders im goldenen Weinfaß zu Finkenrode. Dort verschlingen sich in die süßen Morgenträume die Trommel-und Hornklänge aus fünf nahen und fernen Kasernen, leise den Schläfer auf das aphoristische Allerlei der Töne in den Gassen, das nun bald folgen wird, vorbereitend. Dort hat der gräßlichste Lärm, all das Getöse der erwachenden, großen Stadt keinen andern Einfluß auf den spät zu Bett gehenden Menschen, als daß er sich auf die andere Seite dreht und weiter schläft: hier –
stand ich plötzlich mitten im Gemache, entsetzt, taumelnd, schlaftrunken – – –
»Kikeriki, kikeriki!« dicht unter meinem Fenster, auf einem hochgetürmten Holzhaufen – ein Finkenrodener Hahn!
Ich hatte Mühe, den Schreck über diese harmlose Lebenskundgebung zu überwinden und meine Lebensgeister zu sammeln; es gelang mir aber doch. Ich gähnte, nieste, streckte zwei geballte Fäuste so weit als möglich nach Frankreich und Rußland hin ans und warf einen verschlafenen Blick in die Außenwelt.
Zwischen den Vorhängen hindurch schimmerte ein weiß, grau und blau gemischter Tag und lud ein zu Betrachtungen über den Spruch: Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Manche Zigarre verflüchtigte sich in blauen Rauch an diesem Morgen über dem Gedanken, was ich heute mit mir in Finkenrode anfangen könnte. Mehr und mehr brach eine klare Wintersonne sich Bahn durch die Wolken, mehr und mehr gewann der Gedanke, dem alten Hauptmann Fasterling nach der Kirche einen Besuch abzustatten, konkretere Gestalt.
»Fräulein Fasterling ist ein sehr hübsches, lustiges, junges Mädchen!« sagte Tolle, der Wirt, der sich nach meiner Nachtruhe erkundigte.
»Der alte Herr hat eine Tochter?«
»Jawohl, das wissen Sie nicht? Ah, richtig, er verheiratete sich erst nach dem Tode Ihres Herrn Vaters – seine Frau ist aber bald gestorben; er hat nur das einzige Kind – Fräulein Sidonie Fasterling.«
»Fräulein Sidonie Fasterling! beschlossen! – ich werde den alten Burschen aufsuchen – ich meine den Hauptmann.«
»Es ist ein braver, alter Herr! Hat sich gestern abend im Klub auch schon nach Ihnen erkundigt – der Klub wird hier im goldenen Weinfaß gehalten. Fidele Gesellschaft! Werden auch eintreten müssen, wenn Sie hier bleiben …«
»Sidonie Fasterling!« sagte ich, als sich die Tür hinter dem wackern Manne der Gastfreundschaft gegen bar geschlossen hatte. – Die Finkenrodener und Finkenrodenerinnen schritten jetzt unter meinen Fenstern vorüber zur Kirche, und ich warf wohlwollende Blicke herab auf sie während der Vorbereitungen zur Toilette. Alle diese ehrenfesten Bürger, diese alten Mütterchen, diese vorsichtig einhertrippelnden jungen Mädchen, diese geputzten Kinderscharen mit den schwarzen Gesangbüchern, den weißen Sonntagstaschentüchern waren so ganz verschieden von den Andächtigen größerer Städte, waren mir so bekannt – über das ganze Städtlein legte sich ein Duft sonntäglicher Heimlichkeit!
Eben war ich beschäftigt, der Schleife meiner weißen Krawatte den modernsten, elegantesten Ausdruck zu geben, als mich abermals ein Klopfen an der Tür störte.
»Herein!« Auf der Schwelle erschien ein wohlgewachsenes Individuum, genial, luftig angetan, einen breitrandigen braunen Filzhut schwingend.
»Bösenberg! Hurra! Kennt Ihr mich nicht mehr?«
»Bei Gott – Mietze, der Mime! Alexander Mietze!«
»Derselbe! Ewig derselbe!«
Der braune Filzhut flog in den Winkel; wir hatten einander in die Arme gefaßt, und genossen im Zweitritt uns drehend die Freude des Wiedersehens. –
Es gibt eine Art Leute, welche von frühester Jugend eine solche Gleichgültigkeit gegen jede Autorität zeigen, daß sie die leisesten Anforderungen in dieser Beziehung täuschen. Die gütige Mutter Natur rüstet sie daher auch in der Regel mit einer größeren Fähigkeit aus, Püffe, Stöße, Ohrfeigen, Ermahnungen, Verweise, Hunger, Einsamkeit und andere Hilfsmittel der Erziehung zu ertragen, als andere Geschöpfe derselben Gattung. Sie wachsen heran, sich selbst ein Rätsel; ihren Eltern, Lehrern, Tanten, Oheimen und Nachbarn aber ein stetes Thema schlagender und beißender Erörterungen. Die Redensarten: du bringst es dein Lebtag zu nichts! – an dir ist Hopfen und Malz verloren! – Junge, ich haue dich, daß du den Himmel für einen Dudelsack ansehen sollst! – nimm dich in acht, du endest gewiß noch mal am Galgen, ins Zuchthaus kommst du gewiß! – ich werde dich aus der Klasse schicken, ein räudiges Schaf steckt die ganze Herde an! – du bist ein Nagel zu meinem Sarge! und so weiter, und so weiter, bekommen sie so oft zu hören, daß dieselben zuletzt wirkungslos an dem verstockten, brütenden Phlegma des Sünders abgleiten. Gewöhnlich offene, ehrliche Naturen, behalten diese Unglücklichen selten das klare, lebensfreudige Auge, mit dem sie anfangs in die Welt hineinsahen. Entweder werden sie so niedergedrückt, daß sie stumpfsinnig aus dem Knabenalter hervorgehen und annähernd das werden, was man unter einem guten Beamten und Staatsmann versteht: langsam, geduckt nach oben, selbstherrisch, tyrannisch-stänkerig nach unten hin; oder aber sie verwildern und finden nimmer im Leben den rechten Weg. Sie gehen zugrunde an innerer Haltlosigkeit.
Ich freute mich