»Herr Postsekretär, diesmal gewinne ich meine Wette. Es ist das letzte Mal, daß wir sie sehen – sie kommen wahrhaftig nicht wieder!«
Der Sekretär zog die Feder sorgenvoll hinter dem Ohr hervor, kratzte sich damit an der frostgeröteten Nase, und zog sich nach einem letzten wehmütigen Blick auf die Rosse und einem gleichgültigen auf den unglücklichen Reisenden in seine Schreibstube zurück, gefolgt von dem Eleven, der kichernd die Hände aneinander rieb. Und jetzt war alles zum Ab – schleichen bereit, der Briefbeutel und der Schaffner waren an ihren Plätzen; ich der einzige Passagier, an dem meinigen – ein schwacher Ruck – ein gewaltiges Hurra der versammelten Sauinger Jugend, – fort ging es – nicht im sausenden Galopp, aber doch in einem schwachmütigen Trab, der mich auf den Gedanken brachte, man habe den beiden unseligen Gäulen als Ermunterungsmittel einige Disteln unter die Schwänze geschoben.
Nachdem ich eine Zigarre angezündet und den Schaffner mit einer dito versehen hatte, fing ich allmählich an, mich wieder etwas als Mensch zu fühlen; ich ließ das Wagenfenster auf der dem Wind und Regen entgegengesetzten Seite herab, und betrachtete die Gegend. Im grünen Sommer mochte sie sich wohl
19 noch anmutiger dem Wanderer darlegen, aber auch heute, wo die Berge vom Dunst und Regen verschleiert waren, flatternde Nebel phantastisch durch die leeren Zweige der Bäume zogen, hatte sie ihre Reize. Hin und wieder klapperte eine Sägemühle in einem Tale; es rauschte manch Wässerlein aus mancher wilden Schlucht hervor, und bei jeder Wendung des Weges schoben sich die Berge origineller ineinander, und von Viertelstunde zu Viertelstunde wurde die Landschaft romantischer.
»Da haben wir neulich gelegen – Wagen und alles!« sagte der Schaffner, auf einen Abhang zeigend. »Mehr links! links, Schwager! … Donnerwetter! …na, gottlob! wir sind vorüber!«
Ich hatte schon die Zähne zusammengeklemmt, um mir eventualiter nicht die Zunge abzubeißen; jetzt brachte ich sie aufatmend wieder voneinander: »Wie heißt jener Ort dort?«
»Das ist Rollendorf. Fetter Boden und reiche Bauern, aber viel Dreck, Herr!«
Rollendorf? Rollendorf? Der Name kam mir so bekannt vor, – heftete sich nicht irgendeine vergessene Tatsache aus meiner Kindheit an diesen Ort? Ich faßte den spitzen Turm des Dorfes fester ins Auge! Rollendorf? Rollendorf? Ich fand nicht wieder, was ich in der Erinnerung suchte; aber mein Herz schlug doch ein wenig höher, und ich freute mich dieses seltsam wehmütigen Gefühles.
»Dort, wo der Dampf aufsteigt, sind die Hütten von Waldenberg – und da, auf dem Bergrücken, guckt die Kollerwarte hervor; zwischen den beiden Höhen ist der Kollergrund – da liegen viele Schweden begraben!« sagte der Schaffner.
»Was ist das dort für eine blaue Höhe? Die höchste – ganz in der Ferne?«
»Das ist der Eulenkopf! Ja, das ist der höchste Berg in unserer Gegend. Als ich Soldat war, Anno Dreizehn, habe ich aber viel höhere gesehen.«
»Der Eulenkopf, wahrhaftig, das ist der Eulenkopf! Hurra, der Eulenkopf! Gruß dir, Gruß dir, Heimat!«
»Wenn wir diese Höhe hinauf sind, können wir die beiden spitzen Türme von Finkenrode und den Fluß sehen; jetzt verdeckt der Wald noch die Aussicht.«
Ich hatte fast keine Ruhe mehr auf dem Sitze. Alle die so bekannt klingenden Namen, welche der Mann erwähnte, jagten mir das Blut rascher und rascher durch die Adern. Ich drehte mir fast den Hals ab; auf allen Seiten tauchte meine vergessene Jugendwelt um mich her empor.
»Dort geht der Herr Pastor Rohwold. Wie kommt der daher?« sagte der Schaffner, auf einen Wanderer zeigend, der auf einem Waldwege mit einem Regenschirm dahinschritt. »Sein Vater war Pastor zu Rulingen, und er ist es kürzlich auch geworden.«
»Arnold Rohwold! Das Pfarrhaus zu Rulingen – o, wie habe ich das vergessen können?« – Wäre mein Jugendgespiele nicht schon in einer Niederung verschwunden gewesen, ich hätte mich aus dem Wagen gestürzt, und wäre ihm nachgesprungen.
Zwanzig Jahre lagen zwischen jener Zeit und heute! – – –
»Finkenrode! Da ist Finkenrode!« rief ich aufspringend; aber die niedrige Wagendecke trieb mir den Hut bis über die Nase hinunter, und als ich ihn mühsam mit Hilfe des grinsenden Kondukteurs wieder in die Höhe gezogen hatte, war der Blick auf die beiden spitzen Kirchtürme meiner Geburtsstadt verschwunden. Wir fuhren jetzt bergunter in den Wald hinein, vorsichtig und langsam, denn der Weg war fast grundlos durch den fortdauernden Regen geworden.
»Dunkeldorf ist die letzte Station,« sagte der Schaffner, »nachher müssen wir noch über den Schillingsberg; das ist ein schweres Stück Arbeit. Um elf Uhr sind wir in Finkenrode.«
In Finkenrode! Ich hätte den Mann umarmen mögen, beschwor aber zugleich den Himmel, irgendeinen Dämpfer auf meine sentimentalen Aufwallungen zu setzen. Ach, ich wurde schneller und nachdrücklicher erhört, als mir lieb war!
Dunkeldorf war bald erreicht, und vor der Schenke wurden die Pferde gewechselt. Wir vertauschten unsere Geisterrosse gegen andere, und der käseartige junge Postmann schien seine Wette doch noch nicht gewinnen zu sollen Einmal kamen sie noch zurück, die vortrefflichen Tiere! Zurück nach meinem unvergeßlichen Sauingen, auf welches ich allen Segen, alles nur mögliche Glück herabflehte, während ich liebend den Tieren die feuchten Mähnen strich, und einen Kognak gegen die Kälte und gegen meine besseren Gefühle genoß.
Weiter! Weiter!
Mühsam arbeiteten sich jetzt die frischen Gäule den Schillingsberg hinauf, den königlichen Postwagen mit dem Vertreter der deutschen Journalistik, dem Kondukteur Mönkemeyer und der Korrespondenz der Finkenrodener hinter sich herschleppend; als uns, nahe dem Gipfel, das Fatum, die Moira schrecklich ereilte.
Krack! krack! seitwärts neigte sich der schwarzgelbe Kutschkasten; der tote Rehbock schoß von dem Verdeck zuerst hinab auf die bodenlose Landstraße. Mönkemeyer, der Schaffner, ließ mich pflichtgemäß auf sich fallen, der Postillon fluchte; die Pferde schlugen scheu aus, da lag der königliche Postwagen auf der königlichen Landstraße. Ein seltener Genuß in dieser Zeit der Kurierzüge mit einem Postwagen umgeworfen zu werden l…
»Der Teufel!« rief der Schaffner.
»Ach du lieber Himmel!« seufzte ich.
»‘s ist doch, als hätte der verfluchte Kasten ordentlich seinen Spaß daran!« schrie wütend Mönkemeyer. »Sehen Sie nur, Herr, wie behaglich sich die Bestie, die Kröte, die Kanaille in den Sumpf gelegt hat, als gäbe es gar keine Wagenremise in Finkenrode! ‘s ist zum Rasendwerden! Warten Sie, ich will Ihnen Ihren Schirm hervorsuchen!«
Mit diesen Worten stieg der Erzürnte auf die Speichen des Vorderrades und langte mir mein seidenes Wetterdach hervor. Ich spannte es aus, und rettete mich auf einen Steinhaufen am Wege. Von hier konnte ich das Schlachtfeld mit mehr Gemütsruhe betrachten.
»Na, Schwager, da ist nichts anderes zu machen! Spannt nur die Pferde ab und reitet nach der Stadt um Hülfe; ich will bei der Karrete bleiben. Der Herr wird auch am besten tun, wenn er als Infanterist in Finkenrode einrückt; es geht ja jetzt nur noch bergab, und der Weg ist auch nicht allzu schlecht.«
»Ja, es wird wohl das beste sein!« sagte ich, und stieg die zwanzig Schritte, die ich noch von der Höhe des Berges entfernt war, empor bis zu einem uralten Grenzstein des Erzbistums Mainz, welcher halbversunken dort steht.
Finkenrode! …
Ein Blick überflog meine ganze Kindheitsgegend, soweit es der verhangene Himmel erlaubte.
Die Endung »rode« des Stadtnamens deutet an, daß auf der Stelle, wo heute sieben-bis achttausend Menschenkinder ein ziemlich glückliches und, was man auch darüber sagen mag, ziemlich harmloses Dasein führen, tiefer, germanischer, herzynischer Urwald war, der sich in alten Zeiten von den Harzbergen über die norddeutsche Ebene, bis