Die scharfen Schatten auf dem Pflaster und an den Häuserwänden, das Glitzern der Fensterscheiben, die ziehenden, beleuchteten Wolken am dunkeln Nachthimmel, die flüsternden Gruppen in den Haustüren und an den Straßenecken, alles wird nun zu einem Bilde für Gustav, zu einem Märchen für Elise. Da beleben sich die Straßen, Gassen und Plätze mit den wundersamsten Gestalten; auf den Ecksteinen lauern zusammengekauert grimmbärtige Kobolde; aus den dunkeln Torwegen der alten Patrizierhäuser treten seltsame Gesellen mit nickenden Federn und weiten Mänteln, und schöne Damen besteigen weiße Zelter, in die Nacht davonreitend; Söldner im Harnisch, die Partisanen auf den Schultern, ziehen über den Markt; Prozessionen vermummter Mönche winden sich langsam aus dem Domportal und – alles liegt morgen in den hübschesten Skizzen festgebannt auf Elisens Nähtischchen oder treibt sich auf dem Fußboden umher. Natürlich sind Gustav und Elise uns immer einige Schritte voraus, und nur von Zeit zu Zeit kann ich abgerissene Sätze ihrer Unterhaltung erfassen. Ich denke an Paul und Virginie unter den Palmbäumen von Isle de France; ich denke an die beiden süßern Gestalten des deutschen Märchens, an Jorinde und Joringel, von denen es heißt: »Sie waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern.« – Nachdem wir manche Straße durchstreift und vor dem erleuchteten Opernhause die ein-und ausströmende Menge, die harrenden Equipagen, die Blumen und Zuckerwerk verkaufenden Kinder betrachtet haben, finden wir uns zuletzt auf dem Schloßplatz an dem Becken des lustig im Mondschein sprudelnden Springbrunnens zusammen. Von den Rasenplätzen bringt ein warmer Luftzug den Duft der Nachtviolen, der Holunder-und Goldregenbüsche zu uns herüber; am südlichen Himmel wetterleuchtet eine dunkle Wolke prächtig in die Mondnacht hinein, und neben uns plätschert und murmelt – als wolle er sich selbst in den Schlaf sprechen – der Springbrunnen. Es ist eine herrliche Sommernacht!
Woran denkt Elise? Wie nachdenklich sie, das Kinn in die Hand gelegt, dem schwatzenden Wasserspiel zuschaut!
»Lieschen, woran denkst du?« fragt die Tante Helene.
»Ihr würdet lachen«, antwortet Elise. »Es ist ein Traum und ein Märchen.«
»Erzählen! erzählen!« ruft Gustav, den Arm ihr um die Hüfte legend.
Was soll ich anfangen heute an diesem einsamen Abend? Ich ergreife ein Heftchen von blaßrotem Papier, bedeckt mit mädchenhaft zierlichen Schriftzügen, durchwoben mit hübschen feinen Federzeichnungen. Da ist’s. So erzählte Elise an jenem fernen Abend, als der Brunnen neben uns plätscherte:
»Ich saß neulich mal des Abends ganz allein. Du warst ausgegangen, Onkel; Gustav war am Morgen schon mit seiner großen Mappe abgezogen, um Bäume und Bauernhäuser zu zeichnen; wo die Tante war, weiß ich nicht; kurz, ich war mutterseelenallein, und nur mein guter, dicker Kater schnurrte auf der Fußbank neben mir und putzte sich den Schnauzbart. Ich hatte eine Menge Augen an meinem Strickzeug fallen lassen und durchaus keine Lust, sie wieder aufzunehmen. So schob ich denn die Lampe tief herunter und blickte aus dem Fenster in den Mond, der nicht ganz so voll wie heute über die Dächer und Schornsteine heraufkam. Es war ganz dämmerig in der Stube, und nur zuweilen tanzte ein Lichtschein aus den Fenstern drüben über die Wände. Da plötzlich war der Mond hoch genug gestiegen, ein glänzender, lustiger Strahl schoß wie ein weißer Blitz über meinen Topf mit Nachtviolen und ein Glas mit Waldblumen, welches neben mir stand, und – mit ihm kam mein Märchen oder mein Traum. Es war zu hübsch! – Zuerst guckte ich eine ganze Weile in die glänzende Straße auf dem Boden, die immer weiter rückte, als – auf einmal – ihr glaubt’s gewiß nicht – der ganze Strahl von unzähligen, kleinen, zierlichen, durchsichtigen Flügelgestalten lebte, die darin auf-und abschwebten und durch ihren Glanz selbst die Bahn bildeten. Halb erschrocken und halb erfreut sah ich diesem wundersamen Weben zu, als plötzlich das Blumenglas im Fenster einen schrillen, langanhaltenden Ton, wie er entsteht, wenn man mit dem Finger um den Rand eines Glases streicht, von sich gab. Das Wasser darin hob und senkte sich, blitzte, funkelte und bewegte die Waldrosen hin und her; die Blüten der Nachtviolen öffneten sich, und aus jeder schwebte ebenfalls ein zierlich geflügeltes Wesen, fast noch feiner als die Lichtgeisterchen. Nach allen Seiten flatterten sie, den köstlichsten Duft verbreitend. Währenddessen tönte der schrille Ton des Glases fort, bis er mit einem Male aufhörte, gleich einem Faden durchschnitten, worauf eine tiefe Stille eintrat. – Jetzt hatte der Mondstrahl deinen Schreibtisch erreicht, Onkelchen; das kleine Geistervolk tanzte lustig über deinen Büchern und Papieren, und so weit hatte ich mich schon von meiner Verwunderung erholt, daß ich herzlich über die sonderbaren Kapriolen einiger der winzigen Dingerchen lachen konnte, die auf alle Weise sich bemühten, in unser großes Dintenfaß zu gucken, ohne den Mut zu haben, sich in die Nähe zu wagen. Andere wieder schwebten über den Federn, und noch andere machten sich um einen recht dicken, abscheulichen Dintenklecks zu schaffen, welcher nicht trocknen wollte; sie schienen ihm das Lebenslicht mit aller Macht ausblasen zu wollen.
Ich weiß nicht, wie lange ich diesen zauberischen Wesen zugesehen hatte, als eine Menge feiner Stimmchen ›Folge, folge!‹ rief, und ich, immer kleiner werdend, endlich selbst als ein solches geflügeltes Figürchen in den Tanz gezogen wurde und mit den Geistern des Mondlichts und den Duftgeistern der Waldblumen und der Nachtviolen langsam dem Fenster zuschwebte. Denn wie der Mond noch höher stieg, zog sich auch der Strahl mit seinen glänzenden Bewohnern wieder zurück und lief hinab an der Hauswand, um in die Gasse hinunterzusteigen. – Ich hatte durchaus keine Furcht, trotzdem daß es da draußen wie eine verzauberte Welt war. – Die ganze Gasse war ein Gewirr von Tönen und Licht, und nichts von dem Leben und Weben des Geistervolks war mir mehr verborgen, und von Geistervolk lebte und webte alles! Dabei hatte ich auch nicht die Fähigkeit verloren, die gröbere, gewöhnliche Welt zu schauen und zu vernehmen; ich kannte und belauschte die Leute in den Haustüren, die Kinderköpfe in den Fenstern, die schlafenden Sperlinge und Schwalben in ihren Nestern; es war wunderhübsch! – Jetzt zog der Strahl mit seinen Bewohnern schräg über unsere Wand fort und glitt auf die Fenster unserer Nachbarn zu. Halb zehn Uhr hörte ich’s schlagen, als der Reigen vor dem Fenster der armen Frau Nudhart, die mit ihrem kranken Kind da wohnt, ankam und zitternd über einen knospenden Rosenbusch in das kleine Zimmer glitt. Leise singend schwebten die Geisterchen des Lichts, und ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten sich um den Schatten des Rosenbusches auf dem Boden, küßten das bleiche Kindergesicht auf dem Bettchen und die ebenso bleichen Züge der darüber hingebeugten, armen, sorgenvollen Mutter. ›Wir bringen Hoffnung, wir bringen Genesung, wir bringen Leben!‹ flüsterten die Geister. Das kranke Kind legte seine magern Händchen lächelnd in den zitternden Strahl auf seinem Kissen. ›Wir bringen Hoffnung, Genesung, wir bringen Leben‹, sang ich mit im Chor, und fast widerstrebend folgte ich dem zurückweichenden Strahl. Noch einen letzten Blick konnte ich zurück ins Zimmer werfen, und im nächsten Augenblick schwebte ich schon wieder in der Gasse. Die Tante aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen sein, denn plötzlich mischten sich die Töne ihres Flügels in den Reigen; ich hörte, wie der alte Marquart drunten vor seinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte. Aber mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir waren jetzt vor dem Fenster des ersten Stockes unseres Nachbarhauses; ein heller Lampenschein drang aus dem Zimmer hervor, und über ein Glas mit Goldfischen und das Strickzeug in den Händen der Frau Hofrätin Zehrbein schwebten wir hinein lustig und glänzend ohne eine Ahnung des Schrecklichen, welches uns bevorstand. ›Mein Fräulein‹, lispelte eine Stimme, in deren Inhaber ich den Assessor Kluckhuhn erkannte. ›Mein Fräulein, inkommodiert Sie diese abominabel schwüle Luft nicht zu sehr, bitte, so lassen Sie uns noch einmal jene köstliche Barcarole aus Haydée hören.‹ – Um Gottes willen! dachte ich, aber schon war’s zu spät, meinen winzigen Begleitern das Drohende mitzuteilen und zu schneller Flucht zu raten; schon hatte Eulalia begonnen:
›Das Lido-Fest ist heute,
Lust und Vergnügen ringsum lächelt …‹
Entsetzen faßte die Geisterschar; ihre schillernden, glänzenden Farben verblichen; von dem Resonanzboden des ächzenden Musikkastens (wie Gustav sagt) und zwischen den Lippen der Sängerin entwickelte sich eine mißgestaltete Gnomenschar, die, gespenstisch kreischend und jammernd, sich in der Luft überstürzte und überschlug und grimmig über die