Ich hatte dieser langen Rede des Karikaturenzeichners geduldig zugehört, jetzt sagte ich, während ich erbost meine Pfeife ausklopfte: »Sie haben vor einiger Zeit versprochen, ein Mitarbeiter meiner Chronik werden zu wollen, ich nehme Sie jetzt nach Ihrer so tief eingehenden Kritik sogleich beim Wort und – lasse Sie mit Dinte, Feder und Papier allein, daß Sie Ihren Beitrag derselben auf der Stelle anhängen. Der einst Konfuswerdende mag auch von Ihnen etwas mit aufwühlen. Guten Abend!«
Der Karikaturenmaler lachte, sagte »fiat« und begann eine Feder zu schneiden, während ich Hut und Stock nahm und abzog mit dem Gefühl eines Menschen, der eine belebte Straße hinabzieht unter der festen Überzeugung, daß ihm hinten ein ungreifbares, ellenlanges Band vom Vorhemde über den Rockkragen baumelt. »Und recht hat er doch!« brummte ich, indem ich die Treppe hinabstieg. »Wenn nur die Liese erst wieder da wäre! Komm zurück, Schlingel von Gustav, und bringe sie mit, daß euer alter Onkel ruhig wieder an seinem Werke de vanitate weiterschreiben kann!«
Damit trat ich aus dem Hause und zog eben die Handschuh an, als sich oben mein Fenster öffnete, der Karikaturenzeichner den Kopf heraussteckte und herunterrief:
»Hören Sie, alter Herr, ich kann Sie so nicht weggehen lassen – ich habe Gewissensbisse und muß erst Öl in Ihre Wunden gießen! Hören Sie, meine Tante teilt die Bücher in zwei Arten: gute, über welchen sie nach Tisch einschlafen kann, und schlechte, bei denen das nicht geht. Ihre Chronik würde sie unter die ersteren rechnen, wenn sie, aufgewühlt, ihr in die Hände fallen sollte. Adieu!«
Ich wandte dem unverschämten Gesellen lachend den Rücken und marschierte ab.
Am Abend.
Ich bin zurückgekommen von meinem Spaziergang und sitze wieder allein und einsam vor den zerstreuten Bogen meiner Chronik. Der Karikaturenzeichner hat wirklich ein Blatt vollgekritzelt, alle meine Federn verdorben, einen Dintenklecks auf den Fußboden gemacht, meinen Siegellackvorrat zerbissen, zerdreht und zerbrochen und – eine Ecke von meinem Schreibtisch abgeschnitzelt. – Er hat mir fast die Fortsetzung der Aufzeichnung meiner Phantasien verleidet, und es war doch so süß, wenn der Blick an irgendeinen Gegenstand meines Zimmers, dort an jenes kleine leere Messingbauer, an jenen Sessel vor dem Nähtischchen, an ein altes Blatt, eine vertrocknete Blume, eine bunte Zeichnung in meiner Mappe sich festhing und allmählich eine Erinnerung nach der andern aufstieg und sich blühend und grünend darumschlang. Wir sind doch törichte Menschen! Wie oft durchkreuzt die Furcht vor dem Lächerlichwerden unsere innigsten, zartesten Gefühle! Man schämt sich der Träne und – spottet; man schämt sich des fröhlichen Lachens und – schneidet ein langweiliges Gesicht; die Tragödien des Lebens sucht man hinter der komischen Maske zu spielen, die Komödien hinter der tragischen; man ist ein Betrüger und Selbstquäler zugleich! – Mit einem Kinderbaukasten verglich Strobel diese bunten Blätter ohne Zusammenhang? Gut, gut – mag es sein – ich werde weiter damit spielen, weiter luftige, tolle Gebäude damit bauen, da die fern sind, welche mir die farbigsten Steine dazu lieferten! Ich werde von der Vergangenheit im Präsens und von der Gegenwart im Imperfektum sprechen, ich werde Märchen erzählen und daran glauben, Wahres zu einem Märchen machen und zuerst – die bekritzelten Blätter des Meisters Strobel der Chronik anheften! Hier sind sie:
Strobeliana
3 Uhr. Ich habe mir eine Zigarre angezündet, den Bogen neben mich ins Fenster gelegt und beginne meine Beobachtungen. Zuerst bringe ich zu Papier natürlich das Wetter: das holdseligste Himmelblau, den prächtigsten Sonnenschein. Hätte ich nur einen Funken poetischen Feuers in mir, so würde ich mir beide durch ein junges, schönes Paar personifizieren, welches da hoch oben im Himmelszelt auf seinem weißen, weichen Wolkendivan tändelt und kost und total vergessen hat, daß noch soviel hunderttausend deutsche Hausfrauen auf – Märzschnee warten zum Seifekochen! Wahrhaftig, da ist ja eine Fliege! Welch ein Fund für einen Chronikenschreiber! Summend stößt sie gegen die sonnebeschienenen Scheiben, die wir schnell schließen wollen, um das arme Tierchen zu seinem Besten vor dem heuchlerischen Frühling da draußen zu bewahren. Sie scheint auch jetzt ihre Torheit einzusehen, sie läßt ab und umfliegt mich. Halt, jetzt setzt sie sich auf meine Kniee nach mehreren vergeblichen Angriffen auf meine Nasenspitze; sie nimmt den Kopf zwischen beide Vorderbeine, kratzt sich hinter den Ohren und – – – kleiner …! – Dahin geht sie, eine Spur hinterlassend auf meinem Knie und – in der Chronik der Sperlingsgasse. Ich wollte, es gäbe ein Sprichwort: »Schämt euch vor den Fliegen an der Wand.« Um wieviel menschliche Tollheiten und Torheiten schnurren diese winzigen Flügelwesen! Wer weiß, was der Punkt, den der kleine Tourist da eben niedergelegt hat, eigentlich bedeutet? Wer weiß, ob es nicht ein deponiertes Tagebuch ist, voll der geistreichsten Bemerkungen, ein Tagebuch, das man nur aufzurollen und zu entziffern brauchte wie einen ägyptischen Papyrus, um wunderbare, unerhörte Dinge zu erfahren? Welch eine Revolution würde es hervorbringen, wenn dem so wäre, wenn man sich vor den Fliegen an der Wand schämen müßte! Wie würden die Fliegenklatschen in Gang kommen! Arme Fliegen! Kein »redlicher Greis in gestreifter kalmankener Jacke« würde euch mehr verschonen »zur Wintergesellschaft«. Wie den Vogel Dudu würde man euch ausrotten und höchstens – einige, in Uniform gesteckt, mit einer Kokarde auf jedem Flügel, als Regierungsbeamte besolden. Es wäre schrecklich, und ich breche ab. –
3¼ Uhr. – Welche Reisegedanken dieser blaue Himmel schon wieder in mir erweckt! An solchen Vorfrühlingstagen, wo der Geist die Last des Winters noch nicht ganz abgeschüttelt hat, ist’s, wo die Sehnsucht nach der Ferne uns am mächtigsten ergreift. Es ist ein sonderbares Ding um diese Sehnsucht, die wir nie verlieren, so alt wir sein mögen. Da zupft etwas an unserm tiefsten Innern: Komm heraus, komm heraus, was sitzest du so still, du Tor und hältst Maulaffen feil? Hier findest du nicht, worüber du grübelst, wonach du dich sehnst, ohne es zu kennen. Sieh, wie blau, wie duftig die Ferne! Viel, viel weiter liegt’s! Komm heraus, heraus!
Bah, diese blaue, duftige Ferne; wie oft hab ich mich von ihr verlocken lassen. Die Erde läßt uns ja nicht los; wir sind ihre Kinder, und sie ist nichts ohne uns, wir nichts ohne sie. – Folge jetzt der lockenden Stimme, deine Füße werden schon in den weichen Boden versinken; närrische Sprünge wirst du mit den Erdklößen an den Stiefeln machen! Fühle, daß zur Zeit, wo die Sehnsucht am stärksten ist, auch die Fesseln am stärksten sind; kehre um, ziehe Pantoffeln an und nimm die gestrige Zeitung vor die Nase: das Glück liegt nicht in der Ferne, nicht über dem »wechselnden Mond«! –
3½ Uhr. – Da höre ich eben unten in der Gasse eine merkwürdige Redensart aus dem Munde eines Tagelöhners, der einen andern, sehr übelgelaunt Aussehenden mit den Worten auf die Schulter klopft: »Man muß nie verzweifeln; kommt’s nicht gut, so kommt’s doch schlecht heraus!« In demselben Augenblick öffnet sich nebenan ein Fenster. Eine beschmierte rote Sammetmütze auf einem Wald schwarzer Haare beugt sich hervor; es ist mein würdiger Freund Monsieur Anastase Tourbillon, seines Zeichens ein französischer Sprachlehrer. Er scheint die Redensart drunten auch gehört und – verstanden zu haben und gähnt: »Ah, ouf, quelle bête allemande! Eh vogue la galère, jusqu’à la mort tout est vie!«
Da habt ihr die beiden Nationen und … Wetter! – da gebe ich nicht acht, und – meine