Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Raabe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027207619
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leise fortweinte.

      Ich wußte nicht, was ich thun, was ich sagen sollte; die Hand des Vaters legte sich auf die Locken des Kindes, und ein fragender Blick flog zu mir herüber.

      »Vater! Vater!« hauchte Anna von Rhoda; sie hob das bethränte Gesicht, – ein Strahl der Lampe fiel darauf.

      Der Kranke starrte das Gesicht wie eine überirdische Erscheinung an, schloß die Augen, öffnete sie wieder. Von neuem richtete er sich empor –

      »Vater! Vater!« klang das leise Wimmern Ännchens.

      Sever, ich kann die Scene nicht schildern, die erfolgte, als der unglückliche Mann sein verlorenes Kind wieder erkannte. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

      Der Morgen brachte den Doktor, einen wackeren, in seiner Kunst erfahrenen Mann. Sein Ausspruch lautete dahin, daß der Kranke wohl noch einige Tage leben könne, daß aber keine Hoffnung vorhanden sei, ihn zu erhalten.

      Und so ist es geschehen.

      Der Hauptmann oder vielmehr Oberst von Rhoda ist tot, und sein Leib liegt begraben auf dem winzigen Kirchhofe des nächsten Walddorfes, Dornhagen genannt. Kein Denkstein wird die Ruhestätte seiner Asche schmücken, nur ein Holzkreuz bezeichnet sie, wie die Gräber der armen Bauern, bei denen er nach dem wilden Leben den ewigen Schlaf schläft.

      Er verschied in den Armen seines Kindes, und der Leutnant Bart drückte ihm die Augen zu.

      Die sämtliche Bewohnerschaft des Trautensteins bis auf die Magd Susanna Reußner war an seinem Sterbelager versammelt. Susanna aber hat man vor der Thür des Gemaches kniend und betend, doch thränenlos, gefunden; man weiß nicht, ob sie dem Toten verziehen hat!

      Einen narbenvollen Leib brachten wir zu Grabe; die Narben und Wunden der Seele möge Gott heilen! –

      Am letzten Lebenstage des Obersten schien es fast, als wolle der Tod seinem Opfer noch einmal eine Frist vergönnen. Der Kranke schien neue Kräfte zu gewinnen, seine Stimme wurde klangvoller, der Blick seines Auges belebter. Es war aber nur das letzte Aufflackern der Lampe vor dem Erlöschen, – vernahmen in diesen Stunden die Schicksale Ottos von Rhoda.

      Was soll ich Dir darüber sagen, Sever. Was ist des Menschen Leben? in wie kurze Worte läßt es sich zusammenfassen! Wenn zwei Liebende vor dem Altare das kurze Ja! aussprechen, wie oft drängen sie Jahre, lange Jahre vergeblicher Hoffnungen, banger Sehnsucht, lange Jahre voll Zweifel und Schmerzen darin zusammen. Ein ganzes Verbrecherleben schließt oft der Richter ein in das Wort: Schuldig zum Tode. Ich kann mich kurz fassen in der Erzählung des Lebens Ottos von Rhoda, des französischen Obersten.

      Er war der letzte Sprößling einer verarmten Familie, und wurde erzogen in einer der vier Kadettenanstalten seines Duodezvaterländchens, einer der deutschen Musterschulen, auf welchen die Schmach von Jena und das Geschlecht aufwuchs, welches die preußischen Festungen den Husarenpatrouillen Murats übergab. Otto von Rhoda wohnte der Jenaer Schlacht als Leutnant bei und trat darauf in die Dienste des Fürsten von Dessau, des vortrefflichen Herrn, welcher dem großen Kaiser Napoleon nachäffte, wie man früher dem großen König Ludwig dem Vierzehnten nachäffte. Das neuerrichtete Königreich Westfalen bot indessen dem Abenteuerergeiste Rhodas einen weiteren Spielraum für seine ehrgeizigen Pläne, die alle Gedanken an das Elend des Vaterlandes ausschlossen; – wann hatte der Hofadel unserer kleinen Fürstlinge im allgemeinen jemals eine Idee, die über das Hofmarschallamt und die Kammerkasse hinaus ging? Otto von Rhoda trat in die Chasseurs carabinières Jeromes als Leutnant und wurde bald für seine guten Dienste zum Kapitän befördert. Schon im Jahre 1796 hatte er sich mit einem Fräulein Helene von Maschke, einer sächsischen Dame, vermählt, welche im Jahre 1797 starb, nachdem sie ihm ein Töchterchen geboren hatte. Mit seiner Gemahlin hatte Otto von Rhoda seinen guten Genius verloren; – eine seiner Maitressen; ein gutherziges Ding, nahm sich des armen Kindes ihres Geliebten an und folgte ihm mit demselben, – Friede sei ihrer Asche, sie war eine Ballettänzerin am Hofe zu Wilhelmshöhe, und hieß Adelaide Lanterre. Sie muß ein wildes, tollköpfiges, aber, wie gesagt, gutherziges Geschöpf gewesen sein; was sie bewog, dem Heere Josephs von Madrid in die Schlacht bei Talavera zu folgen, ist dem Oberst ein Rätsel geblieben; höchst wahrscheinlich hat blinde Eifersucht sie dazu bewogen. Auf welche Art sie ihren Tod in dieser Schlacht gefunden hat, ist ebenfalls unbekannt geblieben.

      Am 30. Mai 1809 hob der westfälische Hauptmann Otto von Rhoda auf dem Trautenstein den versprengten Schillschen Reiter Konrad Wolf auf, am 28. Juli desselben Jahres stand er tief in Spanien an der Alberche der deutschen Legion gegenüber. Wir kommen ja aus einer Zeit, Sever, wo die Völker und die Individuen durcheinander geschüttelt wurden, wie die bunten Steine in einem Kaleidoskop. Wir einzelnen winzigen Splitter haben dabei oft genug alle Geisteskraft zusammenzunehmen, um den Glauben nicht zu verlieren, daß wir in jedem Augenblicke einer wundervoll organisierten Konstruktion angehören; wir – Völker und Individuen – fühlen uns zu oft unbehaglich an unserer Stelle, welche uns die schüttelnde Hand gegeben hat.

      Der Hauptmann von Rhoda hatte nach der Schlacht bei Talavera das Suchen nach seinem verlorenen Kinde bald aufgegeben; die eiserne Zeit und sein ungestümer Sinn ließen ihn nirgends auch nur für einen kurzen Augenblick zur Ruhe kommen. Der russische Feldzug brach aus; im Lager an der Czerniznia, von wo »man den Donner der französischen Kanonen bis in Asien hinein vernahm,« kommandierte Otto von Rhoda die äußersten Vorposten und trat mit ihnen zuletzt den Rückzug an. Er wurde auf diesem Rückzuge noch zum Oberst ernannt und focht lebensüberdrüssig, zerfallen mit der Welt und mit sich selbst, doch mit der gewohnten Tapferkeit in den großen Jahren gegen sein Vaterland. Er war ein Bettler nach der ersten Rückkehr der Bourbons; er kämpfte mit bei Waterloo und wurde auf Mont Saint Jean lebensgefährlich verwundet aufgehoben. Nach seiner Genesung lebte er einige Zeit zu Paris, und entschloß sich dann nach Deutschland heimzukehren, durch seine Gegenwart wo möglich ein kleines Gut zu retten, auf welches er Ansprüche zu haben glaubte. Dieses mißlang, sein früherer Landesherr, der nach dem Fall Napoleons seinen Thron wieder bestiegen hatte, hatte dieses Gut – ein Lehen – einziehen lassen. Krank und müde bestieg der Soldat des verbannten Kaisers von neuem sein Roß, um wieder nach Frankreich zu ziehen. Die deutsche Luft drückte ihn, er vermochte nicht, sie zu atmen.

      So zog er denn durch das Gebirge; und erkundigte sich, als der Abend dämmerte, nach dem nächsten Ort, wo er übernachten könne.

      Der Waldarbeiter, welchen er fragte, nannte ihm den Trautenstein, und in dem Augenblick war es dem Oberst, als greife ihm eine kalte Hand nach dem Herzen. Es wurde blutig dunkel vor seinen Augen; aber er hielt das nur für eine vorübergehende Schwäche, dankte dem Waldarbeiter und ritt weiter. Aber die kalte Hand kam wieder, und der Oberst wiederholte für sich das Wort: Trautenstein. Er erinnerte sich des Ortes wohl, aber nicht dessen, was ihm in diesem Augenblick so seltsam aufregte bei der Nennung dieses Namens; er wußte, daß ihm daselbst etwas begegnet sein mußte, aber auf keine Weise konnte er anfangs die Erinnerung daran wiedergewinnen. Vergeblich rieb er sich die Stirn; sein Gedächtnis kam ihm nicht zu Hilfe. In einem Leben, gleich dem seinigen, vergißt man mancherlei.

      Und die Dämmerung nahm mehr und mehr zu; in immer tieferen Gedanken ritt der Oberst weiter: was war auf dem Trautenstein geschehen? was hatte er damit zu thun gehabt?

      Plötzlich kam ihm die Erinnerung, und er schreckte zusammen, wie noch nie in seinem Leben. Er versuchte einen Pfiff darüber zu thun, aber es ging nicht; er versuchte durch das Summen eines leichtfertigen französischen Soldatenliedes darüber weg zu kommen; aber auch das mißlang. Zum Henker, was war das? Er hatte mehr Blut gesehen als das des armen Teufels, des Schillschen Husaren, welchen er auf dem Trautenstein gefangen genommen hatte. Was war ihm das? was sollte ihm das?

      Aber aus allen blutigen Erinnerungen seines wilden Lebens stieg jetzt immer nur die eine, und diese eine immer von neuem in ihm auf. Er fühlte einen Frostschauer durch alle Glieder rieseln. Frisch lebendig stand die längst vergangene Nacht vor seiner Seele, die Nacht, in welcher er auf diesem selben Wege zum Trautenstein ritt; er wunderte sich, daß er nicht das Klirren der Waffen, das Stampfen der Rosse des Jägerpiketts, welches er damals führte, hinter sich hörte. Es kam wie eine Offenbarung über ihn, was für