»Alle Wetter«, lachte der Doktor hier, halb ärgerlich über Liesens Traum, und griff mit der Hand hinter sich, um sich aufzurichten. »Au, Teufel!« schrie er plötzlich. Er hatte wirklich mit der Hand in einen Brennesselbusch gefaßt!
Wir lachten herzlich, und nur Lieschen sagte ganz ernst: »Siehst du, Onkel Wimmer, das war er!« Dann fuhr sie fort: »Wir tranken nun Tee aus wunderniedlichem Geschirr (Onkel Wachholder, gib mir noch ein Butterbrot!), und jeder erzählte eine hübsche Geschichte vom Frühling, Sommer oder Herbst; vom Winter aber wußten sie nichts – da schlafen sie. Dabei hörte ich aber immer den Herrn Lehrer lesen, und Herr Brennessel brummte dann dazwischen. Der war auch der einzige, welcher vom Winter erzählen wollte, es ward aber nicht gelitten. – Auf einmal hörte Herr Roder auf zu lesen, und ich lag wieder bei dir, Onkel Wachholder, im Grase, und Rezensent steckte dicht vor meinem Gesicht seine schwarze Nase zwischen den Halmen durch und guckte mich groß an. Das habe ich gesehen! – War das nicht hübsch? Und nun, Herr Roder – lesen Sie Ihre Geschichten noch einmal – bitte, bitte!«
»Danke schön«, sagte lachend der Lehrer. »Der kluge Herr Brennessel hatte ganz recht, und jetzt sehe ich auch ein: meine Geschichten sind gar nicht hübsch.«
Wie lange haben wir so geträumt und erzählt und im grünen Gras und weichen Moos gelegen? – Schon steigt die Sonne wieder abwärts am blauen Himmel! Muß nicht der Doktor heute noch durch den Wald nach der nächsten Eisenbahnstation? – Auf, Liese, winde dem Rezensenten den letzten Kranz um den schwarzen Pelz! Laßt nichts zurück von euern Sachen! Vorwärts! – Auf engen, schattigen Waldpfaden geht’s nun quer durch das Holz, bis wir endlich das Rollen der Wagen auf der großen Landstraße hören und zuletzt den weißen Streif durch die Stämme schimmern sehen. Horch, Geigen-und Hornmusik! Im Weißen Roß mitten im Wald an der Chaussee ist Tanz. Die Haustür ist mit Laubgewinden geschmückt; Stadtvolk und Landvolk drängt sich allenthalben davor und dadrinnen, im Haus und im Garten. Wir erobern noch eine schattige Laube, und der Doktor gerät in sein Element. Jetzt ist er oben im Saal, schwenkt sich lustig herum mit einer frischen Landdirne oder einer kleinen bleichen Nähterin aus der Stadt; jetzt erregt er unter den Kegelnden ein schallendes Gelächter durch einen wohlangebrachten Witz; jetzt sitzt er wieder bei uns, den Rock ausgezogen, glühend, pustend, fächelnd. Und überall, wo der Doktor ist, ist auch der Pudel. Jetzt oben im Saal wie toll zwischen die Tanzenden fahrend, jetzt, ausgewiesen wie sein Herr aus der Stadt, steckt er seine feuchte Schnauze unter unserm Tische hervor.
Immer tiefer sinkt die Sonne herab. Doktor, Doktor, wir müssen scheiden!
Und der Doktor zieht den Rock wieder an und hängt die Reisetasche um. Wir alle stehen auf.
»Also mußt du wirklich fort, Onkel Wimmer?« fragt Elise weinerlich.
»Jaja, liebes Kind!« sagt der wunderliche Mensch plötzlich ernst. Er hebt die Kleine empor, die sich diesmal nicht sträubt, sondern selbst ihm einen herzhaften Kuß gibt.
»Wirst du auch wohl zuweilen an den Pudel und mich denken, Lieschen?«
»Ganz gewiß«, schluchzt Lieschen, »und ich will schreiben, und der Pudel – nein, du mußt’s auch tun!« Der Doktor setzt die Kleine vorsichtig wieder auf ihren Stuhl: »Lebt wohl, Wachholder«, sagt er, »leb wohl, Roder, alter Freund!«
Der Pudel blickt ganz verblüfft von seinem ernsten Herrn auf uns und wieder zurück: es muß etwas nicht ganz in der Ordnung sein.
»Lebt alle wohl! Ein fröhliches Wiedersehen! Alle! En avant, Rezensent!« schreit der Doktor, über die Gartenhecke und den Chausseegraben springend, und rennt, ohne sich umzusehen, dem Walde zu. Am Rande bleibt er noch einmal stehen und schwenkt den Hut.
»Smollis!« ruft der Lehrer, ihm mit einem Glase zuwinkend. »Grüß die Münchener Kusine, die hübsche Nannerl!«
»Fiducit! Soll geschehen!« ruft der Doktor zurück und verschwindet hinter den Büschen. Rezensent steht noch am Rande, blickt nach uns herüber und stößt ein kurzes Gebell aus.
Jetzt ist auch er verschwunden.
Wir sitzen noch eine Weile still allein.
»Gott gebe dem ehrlichen alten Gesellen Glück!« sagt der Lehrer vor sich hin. Ein Omnibus will eben nach der Stadt abfahren. Was sollen wir noch hier? Wir nehmen Plätze und steigen ein.
Zurück geht’s nun nach der großen Stadt, die staubige Landstraße hinunter. Fröhliche Gesichter jedes Alters und Geschlechts um uns her im dichtbepackten Wagen! Wie die Sonne so prächtig untergeht! Ade, du schöner Wald! Ade, du alter Freund Wimmer! –
Da sind wir schon in den Anlagen. Welche sonntäglich geputzte Menge noch ein-und ausströmt! Wir steigen aus auf dem freien Platz vor dem Tor; den Weg durch die Stadt bis in unsere Sperlingsgasse können wir wohl noch zu Fuße machen.
Da sind wir, als es eben dämmerig wird. Sieh, dort steht die alte Martha strickend in der Tür; sie erblickt uns und ruft:
»Guten Abend, guten Abend!«
»Ach, Martha, das war schön – und – der Onkel Doktor ist fort!« sagt die kleine müde Elise. Auch der Lehrer sagt jetzt gute Nacht und kehrt zurück in sein einsames Stübchen, eine lange Woche mühsamer Arbeit vor sich.
Das war ein Sommertag im Walde, den ich hier aufzeichne in einer öden kalten Winternacht.
Am 25. Januar.
Die Kälte ist aufs höchste gestiegen. Wenige Nasen werden in der Sperlingsgasse herausgestreckt und, die es werden, laufen rot und blau an. Welch ein Künstler der Winter ist! Die Spatzen färbt er gelb und den freien Deutschen macht er ausrufen: Mein Haus ist meine Burg!
Was kann ein Chronikenschreiber bei so bewandten Umständen Besseres tun, als sein Haus einzig und allein zum Gegenstand seiner Aufzeichnungen zu machen und die große Welt draußen, die allgemeine Gassengeschichte, gehen zu lassen, wie sie will?
Im Jahre der Gnade 1619 verbrannten sie zu Rom einen Gottesleugner, genannt Julius Cäsar Vanini, der hob, auf seinem Scheiterhaufen stehend, einen Strohhalm zwischen den Holzklötzen auf und sagte lächelnd: »Wenn ich auch das Dasein Gottes leugnen würde, dieser Halm würde es beweisen!« – Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte – Gottes! Wohin führt uns das? Kehren wir schnell um und steigen wir die Treppen hinunter in das unterste Stockwerk.
Da sitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirts und Tischlermeisters Werner eine weißhaarige, gebückte Frau in ihrem Lehnstuhl hinter dem Ofen, spinnend vom Morgen bis zum Abend. Das ist die alte Mutter der Hausfrau, die Tochter des Erbauers des Hauses, welche den Grundstein legen und den Knopf auf die Giebelspitze setzen sah und mit dem Hause und seiner Geschichte verwachsen ist durch und durch.
Manche Leiche hat sie in den langen Jahren ihres Lebens hinaustragen sehen: ihre Eltern und alle ihre Geschwister, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf eins, die Anna, die Frau des jetzigen Besitzers. Sie hat den Sarg Mariens mit schmücken helfen und den Sarg Franzens; sie hat ihre Freundin, meine alte Martha, mit hinausbegleitet zum Johanniskirchhof, wo dieselbe begraben ward an der Seite ihrer Herrin, und manchen andern vom Dachstübchen bis zur Kellerwohnung.
Einst