Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Raabe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027207619
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wirklich der Vikarius von Stahle, ‘s ist der Bruder Festus!«

      »Nein, nein«, sagte die Erscheinung, »ich bin nicht Festus der Mönch, ich bin tot – lange tot und eingescharrt in die Erden; die Toten haben keinen Namen – bete für die arme Seele, die umgeht bis zum jüngsten Tage.«

      Dem Reiter standen die Haare steilrecht zu Berge, und kalte Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn; er wurde irre an sich selbst, er zweifelte wirklich, ob die Gestalt vor ihm wirklich ein Wesen von Fleisch und Blut oder nur ein Phantom, ein gräßlicher Schein, ein Affenspiel der Hölle sei. Sein Roß ängstete sich wie er, er fühlte es unter sich erzittern. Und – jetzt-jetzt streckte das Gespenst die dürre Hand aus; ohne sich Rechenschaft über das, was er tat, geben zu können, drückte der Lippesche Hauptmann seinem Gaul die Sporen tief in die Weichen, und mit einem gewaltigen Satze flog das Tier seitwärts in das Gebüsch. Der erschrockene Reiter achtete nicht der Zweige, die ihm das Gesicht, das wunde bepflasterte Auge trafen; mit aller Gewalt brach er durch das Unterholz, ohne auf die Richtung, die er nahm, Achtung zu geben. Ein Schrei wahrhaften Entzückens entrang sich ihm daher auch, als plötzlich, unverhofft, als er noch endlosen Wald vor sich zu haben glaubte – ein letzter Satz seines Pferdes ihn ins Freie, auf die breite Landstraße, die der Weser zu führte, brachte.

      Das Bäuerlein hatte doch recht gehabt mit seinem Richteweg.

      Nach dem gewaltigen Sprunge, welchen das scheue Roß über Busch und Graben weg getan hatte, stand es einen Augenblick zitternd von der Anstrengung da. Krampfhaft die Zügel in der Hand zusammenpressend hing der Eckenbrecher im Sattel und schöpfte ebenfalls tief Atem nach dem Schrecken und tollem Ritt. Aber schon raschelte es im Gebüsch und brach hindurch, und abermals setzte der Hauptmann in heftiger Furcht vor dem Gesicht des wahnsinnigen Mönchs seinem Rappen die Sporen in die Seiten und jagte davon durch das graue Zwielicht.

      Als die Landstraße nach zwanzig durchmessenen Pferdelängen sich um eine Holzecke wandte, blickte der Klaus noch einmal über die Schulter zurück und sah einen Schatten den weißen Weg entlang, daher, ihm nachgleiten.

      »Jesus Christus!« schrie er, und im wildesten Galopp jagte er vorwärts – immerzu, immerzu – bergauf, bergab, und stets vermeinte er, den schrecklichen Schatten neben sich zu haben, bald auf der rechten, bald auf der linken Seite; stets glaubte er das unheimliche Keuchen und Atmen des gespenstigen Mönches dicht neben sich zu hören.

      Dem war aber nicht also!

      Langsam schritt der Bruder Festus, nachdem er hinter dem Klaus her ebenfalls die Landstraße erreicht hatte, durch die Dämmerung und den Sturm ebenfalls gegen die Weser.

      Wohl war er ein Bild des Grauens! Sein weites graues Gewand, zerfetzt und verwahrlost, wurde durch einen Strick um die Hüften zusammengehalten. Wild wühlte der Wind in den langen, wirren Haaren des Mönchs und warf sie bald zurück, bald über das hagere Gesicht. Die Arme über der Brust kreuzend, stier vor sich hinblickend, schritt der Wahnsinnige dahin.

      Die Regenwolke hatte der Sturm bereits seitwärts fortgetrieben, und eben zog sie in der Ferne zur rechten Seite schwarz in grau über eine Berglehne. Auf die Landstraße schlugen nur noch vereinzelte Tropfen schwer herab. – –

      Wo war die arme Seele des Bruders Festus gewandert in der Welt seit jenem schrecklichen Tage, an welchem der Vikarius von Stahle in dem Nebel und Dunst verschwand?

      Weit, weit, weit! Hier und da – ruhelos – rastlos. Durch den Frühling und seine Blütenpracht, durch den glühenden Sommer, durch die dichten, rauschenden, in Licht und Schatten funkelnden Wälder, über die grünenden Ebenen, durch die golden nickenden Saaten, über welchen die Lerche in der blauen Luft schwebte – blind und taub war die arme, irrende Seele des Mönchs gewandert:

      »Der Bruder Festus ist tot! Betet für die arme Seele des Bruders Festus!«

      Durch große und kleine Städte, durch Flecken und Dörfer, vorüber an einsamen Häusern und Hütten war die arme Seele gewandert;

      »Der Bruder Festus ist tot! Betet für die arme, verlorene Seele des Bruders Festus.«

      Und die Kinder, die auf den Wegen ihre Spiele trieben, flüchteten scheu zu ihren Müttern, und diese hoben im höchsten Schreck die Hände. In Feld, Wiese und Wald richteten sich die Arbeiter von ihrer Arbeit auf, wenn der Bruder Festus vorüberschritt:

      »Jesus Maria, schütze uns!«

      O wie weit, wie weit war die Seele des Bruder Festus in die Irre gegangen! Und nun wurde sie zurückgetrieben im kalten, schaurigen Herbst, willenlos zurückgetrieben nach dem Unglücksorte, von welchem sie ausgewandert war. –

      Betet für die arme Seele des Bruders Festus!…

      Es war vollständig dunkel, als der junge Hauptmann Klaus Eckenbrecher in das Dorf Stahle mit hochklopfendem Herzen einritt. Das Herz drohete ihm zu zerspringen vor Angst und Jubel –

      »O Monika – süße, süße Monika!«

      Aus dem niedern Fenster des katholischen Pfarrhauses fiel der Schein der Lampe auf die Dorfgasse, und sein Roß hielt der Klaus an vor dem Pfarrhaus, bog sich nieder und klopfte an die trüben Scheiben. Noch immer saß der alte Chrysostomus in seinem Stuhl – der Tod schien ihm vorbeigehen zu wollen! – Von seinem Breviarium hob der neue Vikar, der Nachfolger des Bruders Festus, das Gesicht, als Klaus Eckenbrecher abermals anpochte. Er stand auf, schritt zum Fenster und öffnete es:

      »Wer ist da?«

      »Den Bruder Festus hab ich gesehen!« rief der Lippesche Hauptmann. »Weiß nicht, war’s sein Geist oder war er es selber; aber gesehen hab ich ihn. Im dicken Wald ist er mir erschienen und wird mir wohl folgen. Wollt’s Euch nur sagen, Pater, auf daß Ihr Achtung geben könnt – behüt Euch Gott!«

      Der Mönch bekreuzigte sich, und Klaus Eckenbrecher ritt gegen den Fluß hinab.

      Drüben flimmerten die Lichter von Holzminden – der alte Fluß rauschte, und kalt und wild umsauste der Wind den Reiter. Starr blickte der Junge Reiter auf eins der Fünkchen unter den jenseitigen Lichtern – alle Angst, alle Sorge, alle Zweifel waren wie weggeblasen aus seiner Brust – die Tränen stürzten ihm unaufhaltsam aus dem unversehrten Auge; dann hob er sich hoch im Sattel und jauchzte hell auf und schwang den Hut in die Luft –

      »O Monika! Monika!«

      Am liebsten hätte er seinen Rappen in den Strom getrieben, um schwimmend jenes holde Lichtpünktchen drüben am andern Ufer zu erreichen; kaum konnte er die Ankunft des Fährbootes, das er mit aller Kraft seiner Lungen anrief, erwarten. Endlich erschien es, der Klaus führte sein Pferd hinein, und die beiden Fährleute begrüßten mit großer Verwunderung und unverhohlenem Respekt den einstigen Taugenichts von Holzminden. Eine wahre Ewigkeit schien diesem die Überfahrt, und dreimal wieherte der Rappe, als endlich das Boot auf der rechten Seite des Flusses an das Ufer stieß. Unter der Gartenmauer des Pastors Fichtner band der Eckenbrecher sein Pferd an, dann fand er trotz der Dunkelheit mit Leichtigkeit jene Stelle, wo man die Mauer ohne Mühe erklimmen konnte. Im nächsten Augenblick stand er im Garten, dessen Bäume der Nachtsturm wild hin und her riß. Mit fliegendem Atem schlich der Klaus gegen das Haus und lauschte an dem Fenster, dessen Lichtschein ihn so hold, so traulich über die Weser angeflimmert hatte.

      Wie brauste und sauste die Windsbraut hohl über die Welt! Bitterkalt war’s, und wieder schlugen eisige Tropfen hernieder, kein Sternlein schaute durch die Wolken. Aber drinnen die kleine Stube leuchtete in desto hellerem, lieblicherem Glanz. O wie gut kannte der Klaus diese kleine Stube und jedes Gerät darin! Jeder alte Stuhl, der schwerfällige Tisch von altersschwarzem Eichenholz, der gewaltige Kachelofen, alles und jedes rief in ihm eine Erinnerung der Kindheit wach. Wie manche Kinderfreude, wie manches Kinderleid knüpfte sich an diesen engen Raum! O welch ein Blick aus der kalten, stürmischen Nacht hinein in dieses süße, heimliche Schlupfwinkelchen!

      Wie war es denn? Gestern noch waren der Klaus und die Monika kleine, kleine Kinder – wie war es denn gekommen, daß sie heute nicht mehr hinter diesem schwarzen Ofen sich verkrochen, daß sie nicht mehr auf diesem alten Eichentische ihr Spiel mit Blumen, Steinchen, Muscheln des Flusses trieben? War es nicht recht seltsam, daß der