Unsere Kirche. Im schärfsten Gegensatze zu der modernen Bildung und zu deren Grundlage, der vorgeschrittenen Naturerkenntnis, steht unstreitig die Kirche. Wir wollen hier garnicht vom ultramontanen Papismus sprechen, oder von den orthodoxen evangelischen Richtungen, welche diesem in bezug auf krassesten Aberglauben und Unkenntnis der Wirklichkeit nichts nachgeben. Vielmehr versetzen wir uns in die Predigt eines liberalen protestantischen Pfarrers, der gute Durchschnittsbildung besitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sittenlehren, die mit unserer monistischen Ethik (im 19. Kapitel) vollkommen harmonieren, Vorstellungen über das Wesen von Gott und Welt, von Mensch und Leben, welche allen Erkenntnissen der Naturforschung direkt widersprechen. Es ist kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker, Ärzte und Philosophen, die gründlich über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, solchen Predigten kein Gehör schenken wollen. Es fehlt eben unseren Theologen und Philologen, ebenso wie unseren Politikern und Juristen, an jener unentbehrlichen Naturerkenntnis, auf welche sich die monistische Entwickelungslehre gründet.
Konflikt zwischen Vernunft und Dogma. Aus diesen bedauerlichen Gegensätzen ergeben sich für unser modernes Kulturleben schwere Konflikte, deren Gefahr dringend zur Beseitigung auffordert. Unsere heutige Bildung verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens; sie wünscht die Menschheit mittels der Vernunft auf jene höhere Stufe der Erkenntnis und damit zugleich auf jenen besseren Weg zum Glück erhoben zu sehen, welche wir unserer hoch entwickelten Naturwissenschaft verdanken. Dagegen sträuben sich mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreise, welche unsere Geistesbildung in den überwundenen Anschauungen des Mittelalters zurückhalten wollen; sie verharren im Banne der traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft sich unter diese »höhere Offenbarung« beuge. Das ist der Fall in weiten Kreisen der Theologie und Philologie, der Soziologie und Jurisprudenz. Diese Rückständigkeit beruht zum größten Teile gewiß nicht auf eigennützigem Streben, sondern teils auf Unkenntnis der realen Tatsachen, teils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition. Die gefährlichste Feindin der Vernunft und Wissenschaft ist nicht die Bosheit, sondern die Unwissenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen diese beiden Mächte kämpfen die Götter selbst dann noch vergebens, wenn sie die erstere glücklich überwunden haben.
Anthropismus. Eine der mächtigsten Stützen gewährt jener rückständigen Weltanschauung der Anthropismus oder die »Vermenschlichung«. Unter diesem Begriffe verstehe ich jenen mächtigen und weit verbreiteten Komplex von irrtümlichen Vorstellungen, welcher den menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übrigen Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel der organischen Schöpfung und als ein von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses einflußreichen Vorstellungskreises ergibt sich, daß er eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den anthropozentrischen, anthropomorphischen und anthropolatrischen Irrtum unterscheiden. I. Das anthropozentrische Dogma ruht auf der Vorstellung, daß der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens — oder in weiterer Fassung der ganzen Welt — sei. Da dieser Irrtum dem menschlichen Eigendünkel äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungsmythen und mit den Dogmen der mosaischen, christlichen und mohammedanischen Religion innig verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten Teil der Kulturwelt. — II. Das anthropomorphische Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungssagen der drei genannten, sowie vieler anderen Religionen an. Es vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. »Gott der Herr« als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem Denken und Handeln durchaus menschenähnlich vorgestellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Mensch gottähnlich ist. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.« Die ältere naive Mythologie verleiht ihren Göttern Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger materialistisch sind die Vorstellungen der neueren mystischen Theosophie, welche den persönlichen Gott als »unsichtbares« Wesen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach Menschenart denken, sprechen und handeln läßt. — III. Das anthropolatrische Dogma ergibt sich aus dieser Vergleichung der menschlichen und göttlichen Seelentätigkeit von selbst; es führt zu der göttlichen Verehrung des menschlichen Organismus, zum »anthropistischen Größenwahn«. Daraus folgt wieder der hochgeschätzte »Glaube an die persönliche Unsterblichkeit der Seele«, sowie das dualistische Dogma von der Doppelnatur des Menschen, dessen »unsterbliche Seele« den sterblichen Körper nur zeitweise bewohnt. Diese drei anthropistischen Dogmen, mannigfach ausgebildet und der wechselnden Glaubensform der verschiedenen Religionen angepaßt, wurden zur Quelle der gefährlichsten Irrtümer. Die anthropistische Weltanschauung, die daraus entsprang, steht in unversöhnlichem Gegensatz zu unserer monistischen Naturerkenntnis; sie wird zunächst schon durch deren kosmologische Perspektive widerlegt.
Kosmologische Perspektive. Die Unhaltbarkeit dieser drei anthropistischen Dogmen, wie auch vieler anderer Anschauungen der dualistischen Philosophie und der orthodoxen Religion, offenbart sich, sobald wir sie aus der kosmologischen Perspektive unseres Monismus kritisch betrachten. Wir verstehen darunter jene umfassende Anschauung des Weltganzen, welche uns der höchste Standpunkt der monistischen Naturerkenntnis gewährt. Da überzeugen wir uns von der Wahrheit der folgenden wichtigen »kosmologischen Lehrsätze«:
1. Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und unbegrenzt. 2. Die Substanz desselben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet sich in ewiger Bewegung. 3. Diese Bewegung verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwickelung, mit periodischem Wechsel von Werden und Vergehen, von Fortbildung und Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche im raumerfüllenden Äther verteilt sind, unterliegen sämtlich dem Substanzgesetz. 5. Unsere Sonne ist einer von diesen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und unsere Erde ist einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche diese umkreisen. 6. Unsere Erde hat einen langen Abkühlungsprozeß durchgemacht, ehe auf derselben tropfbar flüssiges Wasser und damit die erste Vorbedingung organischen Lebens entstehen konnte. 7. Der darauf folgende biogenetische Prozeß, die langsame Entwickelung und Umbildung zahlloser organischer Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anspruch genommen. 8. Unter den verschiedenen Tierstämmen, welche sich im späteren Verlaufe des biogenetischen Prozesses auf unserer Erde entwickelten, hat der Stamm der Wirbeltiere im Wettlaufe der Entwickelung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9. Als der bedeutendste Zweig des Wirbeltierstammes hat sich erst spät (während der Triasperiode) aus Amphibien die Klasse der Säugetiere entwickelt. 10. Der vollkommenste und höchst entwickelte Zweig dieser Klasse ist die Ordnung der Herrentiere oder Primaten, die erst im Beginne der Tertiärzeit durch Umbildung aus niedersten Zottentieren entstanden ist. 11. Das jüngste und vollkommenste Ästchen des Primatenzweiges ist der Mensch, der erst in späterer Tertiärzeit aus einer Reihe von Menschenaffen hervorging. 12. Demnach ist die sogenannte »Weltgeschichte« eine verschwindend kurze Episode in dem langen Verlaufe der organischen Erdgeschichte, ebenso wie diese selbst ein kleines Stück von der Geschichte unseres Planetensystems; und wie