Physiologie der Affen. Da unter allen Säugetieren die Affen im gesamten Körperbau dem Menschen am nächsten stehen, läßt sich von vornherein erwarten, daß dasselbe auch von ihren Lebenstätigkeiten gilt; und das ist in Wahrheit der Fall. Wie sehr die Lebensgewohnheiten, die Bewegungen, die Sinnesfunktionen, das Seelenleben, die Brutpflege der Affen sich denjenigen des Menschen nähern, weiß jedermann. Aber die wissenschaftliche Physiologie weist dieselbe bedeutungsvolle Übereinstimmung auch für andere, weniger bekannte Erscheinungen nach, besonders die Herztätigkeit, die Drüsenabsonderung und das Geschlechtsleben. In letzterer Beziehung ist besonders merkwürdig, daß die geschlechtsreifen Weibchen bei vielen Affenarten einen regelmäßigen Blutabgang aus dem Fruchtbehälter erleiden, entsprechend der Menstruation (oder »Monatsregel«) des menschlichen Weibes. Auch die Milchabsonderung aus der Brustdrüse und das Säugegeschäft geschieht bei den weiblichen Affen genau ebenso wie bei den Frauen.
Besonders interessant ist endlich die Tatsache, daß die Lautsprache der Affen, physiologisch verglichen, als Vorstufe zu der artikulierten menschlichen Sprache erscheint. Unter den heute noch lebenden Menschenaffen gibt es eine indische Art, welche musikalisch ist: der Hylobates syndactylus auf Sumatra singt in vollkommen reinen und klangvollen, halben Tönen eine ganze Oktave. Für den unbefangenen Sprachforscher kann es heute keinem Zweifel mehr unterliegen, daß unsere hochentwickelte Begriffssprache sich langsam und stufenweise aus der unvollkommenen Lautsprache unserer Affenahnen entwickelt hat.
Viertes Kapitel. Unsere Keimesgeschichte.
Monistische Studien über menschliche und vergleichende Ontogenie. Übereinstimmung in der Keimbildung und Entwickelung des Menschen und der Wirbeltiere.
In noch höherem Maße als die vergleichende Anatomie und Physiologie ist die vergleichende Ontogenie, die Entwickelungsgeschichte des Einzeltieres oder Individuums, ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Wie entsteht der Mensch im Mutterleibe? Wie entstehen die Tiere aus den Eiern? Wie entsteht die Pflanze aus dem Samenkorn? Diese inhaltsschwere Frage hat auch schon seit Jahrtausenden den denkenden Menschengeist beschäftigt; aber erst sehr spät, 1828, zeigte uns der Embryologe Baer die rechten Mittel und Wege, um tiefer in die Kenntnis der geheimnisvollen Tatsachen der Keimesgeschichte einzudringen; und erst 1859 lieferte uns Darwin durch seine Reform der Deszendenztheorie den Schlüssel, mit dessen Hülfe wir zur Erkenntnis ihrer Ursachen gelangen können. Da ich diese hochinteressanten, aber schwierig zu verstehenden Verhältnisse in meiner Keimesgeschichte des Menschen (im ersten Teile der Anthropogenie) einer ausführlichen, populär-wissenschaftlichen Darstellung unterzogen habe, beschränke ich mich hier auf eine kurze Zusammenfassung und Deutung der wichtigsten Erscheinungen. Wir wollen dabei zunächst einen historischen Rückblick auf die ältere Ontogenie werfen.
Präformationslehre. Ältere Keimesgeschichte. (Vergl. den 2. Vortrag meiner »Anthropogenie«.) Wie für die vergleichende Anatomie, so sind auch für die Entwickelungsgeschichte die klassischen Werke des Aristoteles, des vielseitigen »Vaters der Naturgeschichte«, die älteste uns bekannte wissenschaftliche Quelle (im 4. Jahrhundert v. Chr.). Nicht allein in seiner großen Tiergeschichte, sondern auch in einer besonderen kleinen Schrift: »Fünf Bücher von der Zeugung und Entwickelung der Tiere« erzählt uns der große Philosoph eine Menge von interessanten Tatsachen und stellt Betrachtungen über deren Bedeutung an; viele davon sind erst in unserer Zeit wieder zur Geltung gekommen und eigentlich erst wieder neu entdeckt worden. Natürlich sind aber daneben auch viele Fabeln und Irrtümer zu finden, und von der verborgenen Entstehung des Menschenkeimes war noch nichts Näheres bekannt. Auch in dem langen folgenden Zeitraume von zwei Jahrtausenden machte die schlummernde Wissenschaft keine weiteren Fortschritte. Erst im Anfange des 17. Jahrhunderts fing man wieder an, sich damit zu beschäftigen; der italienische Anatom Fabricius ab Aquapendente veröffentlichte 1600 die ältesten Abbildungen und Beschreibungen von Embryonen des Menschen und einiger höheren Tiere; und der berühmte Marcello Malpighi in Bologna, gleich bahnbrechend in der Zoologie wie in der Botanik, gab 1687 die erste zusammenhängende Darstellung von der Entstehung des Hühnchens im bebrüteten Ei.
Alle diese älteren Beobachter waren von der Vorstellung beherrscht, daß im Ei der Tiere, ähnlich wie im Samen der höheren Pflanzen, der ganze Körper mit allen seinen Teilen bereits fertig vorhanden sei, nur in einem so feinen und so durchsichtigen Zustande, daß man sie nicht erkennen könne; die ganze Entwickelung sei demnach nichts weiter, als Wachstum oder »Auswickelung« (Evolutio) der eingewickelten Teile. Diese falsche Lehre, die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts fast allgemein in Geltung blieb, nennen wir am besten die Vorbildungslehre oder Präformationstheorie.
Einschachtelungslehre. In engem Zusammenhange mit der Präformationslehre entstand im 17. Jahrhundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft beschäftigte: die sonderbare »Einschachtelungslehre«. Da man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Organismus mit allen seinen Teilen vorhanden sei, mußte auch der Eierstock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Generation darin vorgebildet sein, und in diesen wiederum die Eier der nächstfolgenden, usw. in infinitum! Daraufhin berechnete der berühmte Physiologe Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren — am sechsten Tage seines Schöpfungswerkes — die Keime von 200 000 Millionen Menschen gleichzeitig erschaffen und sie im Eierstock der ehrwürdigen Urmutter Eva kunstgerecht eingeschachtelt habe. Kein Geringerer als der hochangesehene Philosoph Leibniz schloß sich diesen Ausführungen an und verwertete sie für seine Monadenlehre; und da dieser zufolge sich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinschaft befinden, übertrug er sie auch auf die Seele; — »die Seelen der Menschen haben in deren Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge(!!), immer in der Form organisierter Körper existiert«.
Epigenesislehre. Im November 1759 verteidigte in Halle ein junger, 26jähriger Mediziner, Kaspar Friedrich Wolff, seine Doktordissertation unter dem Titel: »Theoria generationis«. Gestützt auf eine Reihe der mühsamsten und sorgfältigsten Beobachtungen wies er nach, daß die ganze herrschende Präformationstheorie falsch sei. Im bebrüteten Hühnerei ist anfangs noch keine Spur vom späteren Vogelkörper und seinen Teilen vorhanden; vielmehr finden wir statt dessen oben auf der bekannten gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde, weiße Scheibe. Diese dünne »Keimscheibe« wird länglich rund und zerfällt dann in vier übereinanderliegende Schichten, die Anlagen der vier wichtigsten Organsysteme: zuerst die oberste, das Nervensystem, darunter die Fleischmasse (Muskelsystem), dann das Gefäßsystem mit dem Herzen und zuletzt der Darmkanal. Also, sagt Wolff richtig, besteht die Keimbildung nicht in einer Auswickelung vorgebildeter Organe, sondern in einer Kette von Neubildungen, einer wahren »Epigenesis«; ein Teil entsteht nach dem andern, und alle erscheinen zuerst in einer einfachen Form, welche von der später ausgebildeten ganz verschieden ist; diese entsteht erst durch eine Reihe der merkwürdigsten Umbildungen. Obgleich nun diese große Entdeckung sich unmittelbar