Grünne forderte eine administrative Totalreform des Hofes. Nur mehr ein Stab sollte die gesamte Organisation des Hofes führen dürfen, das Obersthofmeisteramt sollte zur Zentralstelle des Hofes werden und sämtliche Verwaltungsangelegenheiten eigenständig und umfassend verwalten. Überzähliges Personal sollte umgehend abgebaut, die Arbeitsmoral gestärkt werden. Um der Verschwendung Herr zu werden, mussten sämtliche Rechnungsbewilligungen an eine Stelle wandern. Keine Abteilung außer der Direktion des Obersthofmeisteramtes würde mehr selbstständig Rechnungen in Auftrag geben dürfen.
Grünne verlangte auch einen Abschied von jahrhundertealten Administrationseinteilungen und ein starkes Durchgreifen in den Verwaltungsmängeln. Kein Hofwürdenträger hatte jemals so deutliche Worte über die Unfähigkeit der Hofverwaltung einem Kaiser gegenüber gebraucht wie dieser erste Vertraute des Kaisers. Er war Franz Joseph gegenüber ernüchternd ehrlich und schonte in seiner Kritik auch seine Standesgenossen nicht. Wie wenn er ein Zögern des Kaisers befürchtet, den jahrhundertealten Hof seiner Vorfahren zu verändern, schloss Graf Grünne seinen schriftlichen Vortrag an den Kaiser mit den Worten: »Die jetzigen Zeitverhältnisse sind aber so ernst und dringend, dass die bloße Rücksicht für das Alter einer Form nicht mehr hinreichen dürfte, deren Fortbestand, wenn sie offenbar schädlich ist, zu schützen.«21
Der junge Kaiser reagierte auf den alarmierenden Bericht seines Vertrauten sofort. Er ließ unverzüglich eine Neueinteilung der wesentlichsten Hofagenden einleiten. Die mehr als 600-jährige Grundeinteilung des Hofes in vier Stäbe – Obersthofmeisterstab, Oberstkämmererstab, Obersthofmarschallstab und Oberststallmeisterstab – wurde beibehalten, jedoch wanderten nun alle kostspieligen, mit der Verwaltung und Finanzierung des Hofes auch nur im Entferntesten im Zusammenhang stehenden Agenden unverzüglich zum Obersthofmeisterstab, der nun mit Abstand wichtigsten und mächtigsten Stelle des Hofes. Die gesamte Personalverwaltung, die vorher auf vier Stäbe aufgeteilt war, die Finanzverwaltung, vor allem aber die nun erteilte Oberaufsicht über die Geldgebarung und Budgetzuteilung der restlichen drei Stäbe, diese wichtigsten Agenden machten aus dem Obersthofmeisterstab eine Megabehörde des Hofes. Der Hof wurde von nun an streng zentralistisch verwaltet, die Gleichwertigkeit der vier Stäbe in Personalangelegenheiten und ihre Souveränität in ihrer Finanzgebarung gehörten nun der Vergangenheit an. Der Obersthofmeister als Chef dieses Stabes erhielt mit Amtsantritt Kaiser Franz Josephs eine Machtfülle wie nie zuvor. Nach Abschluss der Reform durften die anderen Stäbe nur mehr ihre Spezialagenden behalten – der Oberstkämmererstab war nun nur mehr für die Kunstagenden und den Hofzutritt zuständig, der Obersthofmarschall, der davor auch große Teile des Wachpersonals administriert hatte, wurde zur reinen Rechtsbehörde. Der Oberststallmeister war für die kaiserlichen Gestüte, die Pferdehaltung und die Wagenburg zuständig, durfte aber zumindest sein Stallpersonal selbst verwalten.
Gleichzeitig mit der Ankündigung einer umfassenden Hofreform erließ Graf Grünne auch eine ganze Reihe von Verboten, aus denen man auf die Zustände bei Hof schließen kann. Grünne erinnerte mittels allgemeinen »Circularien«, Weisungen, die an alle Hofstellen geschickt wurden und allen Bediensteten nachgebracht werden mussten, daran, dass zum Beispiel Hoffahrzeuge nicht für Privatfahrten verwendet werden durften. Ganze Familien und Freundeskreise waren mit Hofwagen in Wien und Umgebung herumkutschiert. Dienstreisen wurden verwendet, um sich gleich mit der gesamten Familie auf Reisen zu begeben. Manche Beamte, die regelmäßige Fahrten unternehmen mussten, hatten regelrechte Fahrtuntermieter, die Hofwagen fungierten widerrechtlich als Taxis. Um derartiges Fehlverhalten gar nicht erst weiter zu forcieren, befahl Grünne, dass für Dienstfahrten der Beamten nur mehr einsitzige Wagen verwendet werden durften – wo kein weiterer Platz war, konnte auch niemand mitgenommen werden.
Ein großes Problem hatte der Hof mit seinem Außenauftritt. Schlecht bezahltes Personal, vor allem Kutscher, Türhüter und Diener, bettelte um Trinkgelder. Durch die extrem niedrigen Löhne, die der Hof seinen Dienern zahlte, hatte es sich eingebürgert, dass das Personal für Aufgaben, die völlig innerhalb seines Aufgabengebiets waren, regelmäßig Trinkgelder erhielt. Vor allem die kaiserliche Familie steckte jenen Dienern und Kutschern, die ihnen behilflich waren, regelmäßig einige Kreutzer zu. Das niedrige Personal, das durch diesen freigiebigen Umgang mit der kaiserlichen Familie verwöhnt war, hatte begonnen, Trinkgelder als fixe Gehaltszulage zu verstehen, und hielt nun bei jedem Besucher, ob beim Kaufmann, der einen Termin bei der Hofverwaltung hatte, oder beim höchsten Besucher auf penetrante Weise die Hand auf. Die Beschwerden der Hofbesucher bei der Hofverwaltung häuften sich – eine peinliche Situation für den Hof. Der erste Eindruck, den ein Besucher erhielt, waren bettelnde Höflinge. Bis ein Besucher zu seiner gewünschten Stelle durchdrang, hatten sich ihm mindestens acht Hände entgegengestreckt. Vom Kutscher bis zum Türhüter, vom Diener, der ihn zu der Abteilung brachte, wo er hin wollte, bis zum Amtsdiener – alle hielten die Hand auf. Eine mit Kleingeld gut gefüllte Börse schien für einen Hofbesuch unabdingbar zu sein. Graf Grünne stellte unmissverständlich klar, dass Bettelei auf keinen Fall mehr geduldet wurde und mit harten Strafen zu rechnen war.
Bei den Auswüchsen einer anderen Aufdringlichkeit war die kaiserliche Familie nicht ganz unschuldig. Für die persönlichen Belange und Probleme der engsten Dienerschaft hatten die hohen Herrschaften meist ein offenes Ohr. Hofbedienstete, die ihre Kinder mit Stellen versorgt wissen wollten, kranke Verwandte, die Geld brauchten, Wintermäntel für kinderreiche Familien, um alles wurden die Erzherzöge und Erzherzoginnen gebeten. Da sie zu den Bittstellern einen persönlichen Bezug hatten, aus christlicher Überzeugung heraus auch wirklich helfen wollten, versuchten sie stets den Bitten nachzukommen Bei kleineren Beträgen oder Sachspenden halfen sie sofort, wenn es um Versorgungsposten oder Versetzungswünsche ging, mussten sie sich an die höheren Beamten des Obersthofmeisters wenden, die dadurch in Gewissenskonflikte getrieben wurden. Ein Beamter wollte einer kaiserlichen Hoheit gegenüber natürlich nicht ablehnend sein, man konnte ja nie wissen, gleichzeitig hatten sie ihre strikten Vorgaben. Selbst wenn ein Beamter mutig einen Protektionswunsch ablehnte, konnte er sicher sein, dass sein Vorgesetzter freudig einem Verwandten des Kaisers einen Wunsch erfüllen würde – der Protektion, wie sie Grünne anprangerte, war durch diese Mischung aus gutmütiger Hilfeleistung und persönlichem Eingreifen in die Besetzungspolitik Tür und Tor geöffnet. Grünne ermahnte alle Hofbediensteten sofort aufzuhören, Bittgesuche an die hohe Familie persönlich zu richten, und ließ auch bei persönlichen Vorsprachen der Erzherzöge höflich, aber bestimmt wissen, dass nur auf dem üblichen Amtsweg um eine Stelle angesucht werden könne. Selbst die Kaiserinmutter, die sich für einen jungen Militär einsetzte, ließ er abblitzen.22 Er machte sich mit diesen Maßnahmen noch unbeliebter, als er bereits war, erhielt vom Kaiser aber volle Rückendeckung. Nur in Ausnahmefällen, wenn sich etwa Erzherzogin Sophie eine bestimmte Zofe wünschte, also im privatesten Umfeld, ließ er Personalwünsche zu. Bei administrativen Stellen durften keine Stellengesuche, die nicht auf dem üblichen schriftlichen Weg bei der zuständigen Stelle eintrafen, in Betracht gezogen werden. Auch durfte dem Kaiser kein Bittgesuch mehr persönlich in die Hand gedrückt werden. Jeder Kutscher, jeder Saaltürhüter, dem der Kaiser begegnete, hatte dem neuen Monarchen eine Bittschrift in die Hand gedrückt. Die Hofbediensteten