Das Wunder geschah, denn als er von seinem ersten Arbeitstag bei Lange zurückkehrte, herrschte so etwas wie Waffenstillstand auf dem Hof. Agnes saß zwar mit bockigem Gesicht in der Abendsonne, aber Clara machte sich seit den Morgenstunden in der riesigen Küche zu schaffen, um dort erstmal für Ordnung und Übersicht zu sorgen.
Einige Tage später hatten Barbara, ihr Vater und Thilo das kleine Gastzimmer in der Wohnung über der Schreinerei in ein bescheidenes Kinderreich verwandelt. Für Gritli, die eine hübsche Einrichtung nur aus den bunten Illustrierten von Ingrid Scholz kannte, war das ein Paradies.
Eine knappe Woche weiter, und überall hatte sich herumgesprochen, daß Gritli nun bei ihr über der Schreinerei lebte. So wurde aus dem ›Gritli über den Wolken‹ das ›Gritli über der Werkstatt‹, aber als Thilo seine Tochter einige Male nach dem Unterricht abholte und die Kinder den Weltreisenden respektvoll bewundert hatten, verging ihnen auch der Spaß an dieser Stichelei. Von nun an gehörte Gritli zu ihnen und tollte nachmittags mit Karli, Patricia, Petra und wie sie alle hießen, über die Wiesen.
Das Schönste für Gritli aber war das tägliche Mittagessen mit Barbara, Thilo und Ruppert. Sie lernte sehr schnell, ihrer Lehrerin bei den Vorbereitungen zur Mahlzeit zu helfen, den Tisch hübsch zu decken und dann hinunter in die Werkstatt zu eilen, um die Männer an den Tisch zu holen. Und keinem blieb verborgen, wie Gritli im Beisein ihres Vaters und an der Seite ihrer so gefürchteten Lehrerin aufblühte.
In den letzten Tagen vor den Ferien entstand zwischen Barbara und Thilo eine herzliche Freundschaft. Sie erkannte seine Tüchtigkeit und seinen Einsatz in der Werkstatt ihres Vaters an, er fühlte sich von großem Druck befreit, weil Gritli sich unter ihren Fittichen so wohl fühlte.
Eines Mittags fuhr Clara mit Sepps altem Karren in den Hof, hastete in Barbaras Wohnung hinauf und nahm ohne viele Worte zwischen Ruppert und Gritli am Eßtisch Platz.
Ruppert, der ihr schon auf dem Berghof begegnet war, weil er mit Thilo einige Baumaterialien hochgefahren hatte, erhob sich mechanisch, um wie immer ein zusätzliches Gedeck aus dem Schrank zu holen.
Clara fuchtelte abwehrend mit den Händen. »Ich will nichts essen. Dazu habe ich keine Zeit.« Aber dann konnte sie doch nicht widerstehen. Es gab schließlich Gulasch.
»Ich war in Oberau beim Arbeitsamt«, erzählte sie mit vollem Mund und zog ein Schreiben aus ihrer Tasche. »Da gibt es ein Ehepaar, Stephan und Yella Gollic, die dringend Arbeit suchen. Ich wollte sie mir ansehen, weil wir zum Herbst Hilfe brauchen. Ich fand die beiden in der Klinik, weil Yella Gollic gerade ein Baby bekommen hat.«
»Alle Achtung, Clara!« lobte Thilo. »Du machst Dampf. Du bist eben doch eine aus der Stadt. Und was sagt Sepp denn dazu?«
»Er weiß noch nichts davon.« Sie lachte und sah Barbara an. »Ich habe den Gollics angeboten, gleich nach Yellas Entlassung aus der Klinik zu uns zu ziehen. Stephan kann beim Umbau helfen, für Yella gilt noch der Mutterschutz…«
»Mach mal halblang, Clara«, unterbrach Thilo seine zukünftige Schwägerin. »Wo sollen die denn unterkommen? Du kannst eine junge Mutter und ihr Baby doch nicht auf der Baustelle im oberen Stock kampieren lassen!«
Clara nickte. »Deshalb bin ich hier. Ich brauche deine Einwilligung, Thilo, weil ich sie in Theres’ Häuschen unterbringen will. Es gehört doch Gritli!«
»Und Großmutter?« fragte Gritli wieder. Sie hatte Agnes schon einmal in ihrem kleinen Reich besucht und einen ganz neuen Eindruck von der alten Frau gewonnen. Ausgeruht und zufrieden hatte sie ausgesehen und war viel geduldiger und milder geworden.
»Es ist doch nur vorübergehend.«
Thilo räusperte sich. »Du willst eine dreiköpfige Familie auf den Hof holen, Clara?«
»Klar. Ein Dach über den Kopf und der Lohn bleibt bezahlbar für uns. Außerdem mag ich Babys.«
Ruppert schmunzelte, Barbara lächelte verständnisvoll, nur Gritli starrte Clara entsetzt an. Der Gedanke, daß Clara ihre Gunst einem anderen Kind schenken konnte, gefiel ihr überhaupt nicht.
»Wenn der Ausbau fertig ist, werden die Gollics oben zwei Zimmer brauchen«, überlegte Thilo. »Sie können doch nicht für immer bei Agnes bleiben. Die will endlich ihre Ruhe, die müssen wir ihr lassen.«
»Das weiß ich selbst«, antwortete Clara ohne Umschweife.
»Und wo bleibe ich denn?« fragte Thilo zögernd. Für Sekunden legte sich ein peinliches Schweigen über die Runde.
Dann lachte Clara plötzlich. »Du, Thilo? Ich dachte, du und Barbara…?« Sekunden später hätte sie sich auf die Zunge beißen mögen. Ruppert ordnete sein Besteck geräuschvoll auf den leeren Teller. Thilo griff nach seinem Glas, Barbara stand leise auf und ging in die Küche.
Als Gritli schnell und aufgeregt auf Clara einzureden begann, fand sie nun wenigstens ungeteilte Aufmerksamkeit. »Wenn so ein Baby oben ist, dann hast du es bestimmt bald viel lieber als mich. Willst du das etwa füttern und wickeln, Clara? Dann hast du ja gar keine Zeit mehr. Wir wollten doch aufs Felshorn. Du hast es mir versprochen!«
Clara umarmte sie. »Nach meiner Hochzeit. Ich war schon beim Pfarrer. In zwei Wochen ist es soweit. Dich, Thilo, wollte ich bitten, unser Trauzeuge zu sein. Barbara habe ich als zweiten Zeugen vorgesehen.« Sie blickte sich um und in die Küche. »Ob sie einverstanden ist?«
»Clara, du bist immer so schnell«, seufzte Thilo.
»Na und? Es muß doch mal Ordnung herrschen auf dem Hof.«
»Wenn du meine Tante bist und Sepp dein richtiger Mann ist, gehst nimmer mit mir, nur noch mit ihm aufs Felshorn!« beschwerte Gritli sich und sah Ruppert ziemlich strafend an, weil er über sie zu lachen wagte.
»Dann… dann werde ich mit dir gehen, Gritli.«
Alle Köpfe fuhren herum. Barbara stand unter der Küchentür. Sie schaute lächelnd in die Runde, vermied es aber, Thilo anzusehen.
»Du doch nicht, Frau Lehrerin!« wehrte Gritli ziemlich müde ab. »Hast du überhaupt richtige Stiefel? Clara hat welche. Die von meiner Mami.«
»Und ob! Mein Bärbelchen hat prima Bergstiefel!« prahlte Ruppert, versetzte Gritli einen Nasenstupser und stand auf, um mit Thilo hinunter in die Werkstatt zu gehen.
Clara sah sich verwirrt um. »Bin ich vielleicht wirklich zu schnell und dabei tolpatschig in ein Fettnäpfchen getreten?«
»Ja, Clara. Wie eine richtige Frau aus der Stadt.« Barbara seufzte.
»Tut mir leid. Ich war überzeugt, Thilo und du, ihr seid ein Paar. Wäre doch schön, oder?«
Ein Blick von ihrer Frau Lehrerin, und Gritli rutschte vom Stuhl. Sie nahm einige Teller zusammen, trug sie in die Küche und verschwand ohne Murren in ihrem Zimmer, um ihre Hausaufgaben zu machen.
Clara wandte sich Barbara zu. »Fährst du in den Ferien fort?«
»Ich wollte nach Italien, wie jedes Jahr.«
»Vergiß es. Erst heiraten Sepp und ich. Dabei wirst du gebraucht. Und danach kannst gleich mit Gritli aufs Felshorn steigen.«
»Ihr wird das kaum Freude machen, ich bin ja ganz aus der Übung.«
»Besser als ich kannst es bestimmt. Mußt es eben üben, jeden Tag ein bißchen höher. Hast es ihr doch gerade versprochen!«
»Ach, Clara«, Barbara umarmte die junge Frau stürmisch. »Dich hat sie doch viel lieber. Warum gehst du nicht mit ihr?«
»Frag nicht so dumm. Ich erwarte ein Baby. Aber sag ’s keinem.«
»Das ist nicht wahr! Jetzt schon? So schnell?« Barbara brach in Gelächter aus. »Gritlis Gedicht vor dem Kruzifix scheint also doch erhört worden zu sein!«
»Meinst du? Gut, dann werde ich noch heute abend davor knien und hoffen, daß mir ein richtiges Gebet einfällt, damit aus dir und Thilo auch