»Maria und Jesus, steht mir bei!« konnte er nur stöhnen, begann dann aber zu lachen. Die Situation war so oder so verpatzt.
»Dann will ich Ihnen auch nicht mehr verheimlichen, daß Gritli eine meiner schwächsten Schülerinnen ist. Ihre Versetzung in die zweite Klasse ist sogar gefährdet. Wollen Sie etwa behaupten, das hätten Sie auch noch nicht erfahren?«
Da wurde Thilos braungebranntes Gesicht eine Spur blasser. Er atmete tief ein, um sich wieder zu fassen, sah Barbara aber ernsthaft betroffen an. Während Ruppert ihm ungerührt vom Kartoffelsalat und Leberkäs auf den Teller häufte und dann Barbara zu bedienen begann, folgte ein neuer Redeschwall von ihr.
»Bereits vor zwei Wochen habe ich Sie von Gritlis mangelndem Pflichtgefühl und ihrer prekären Schulsituation informiert und um ein Gespräch gebeten. Da Sie es aber nicht für nötig hielten, zu mir in die Sprechstunde zu kommen, sehe ich mich in meiner Meinung bestätigt. Die ganze Familie Heimhofer scheint ohne Pflicht- und Verantwortungsgefühl dahinzuleben. Schrecklich, wie im Mittelalter, als die Bauern noch nicht schreiben und lesen konnten.«
»Moment mal! Ich weiß nichts von einer Information.«
»Da haben Sie es«, erwiderte Bärbel kühl. »Nichts klappt da oben auf dem Berghof. Das ist typisch für diese Familie.«
»Früher hast du nicht so streng geurteilt, Bärbelchen«, mischte Ruppert sich ein.
»Jetzt weiß ich eben mehr, Väterchen. Entweder drückt sich auch Sepp Heimhofer vor einem Gespräch mit mir, oder Gritli hat den Brief unterschlagen.«
»Zu so etwas ist sie gar nicht fähig«, empörte Thilo sich.
»Ach, das können Sie beurteilen? Kennen Sie Ihr Kind? Sie waren jahrelang im Ausland, kommen endlich zurück und wollen mir weismachen, Sie können in Gritlis Herz sehen?«
»Ich weiß selbst, was ich kann, Fräulein Lange!« erwiderte er gereizt. Machte Gritli nicht täglich ihre Hausaufgaben an dem neuen Tisch und eilte jeden Morgen pünktlich um sieben in die Dorfschule hinunter?
»Thilo«, mischte sich der Schreiner nach verlegenem Räuspern ein, »Barbara wird ›Frau Lehrerin‹ genannt. Das ›Fräulein‹ hat man längst abgeschafft.«
»Na, und? Das ›Frau Lehrerin‹ macht auch keinen Engel aus ihr!«
Der Meister seufzte. »Schon gut. Außerdem mußt du meine Tochter nicht siezen. Es ist wohl schon ein Jahrzehnt oder mehr her, aber habt ihr beiden nicht gemeinsam die Schulbank hier im Dorf gedrückt?«
»Vater!« empörte Barbara sich sofort. »Damit willst du doch nicht etwa behaupten, daß zwischen uns so etwas wie Freundschaft bestand?«
»Garantiert nicht!« meinte Thilo. »Strebsame Mädchen und Musterschülerinnen hab’ ich nie gemocht.«
Er erhob sich. Ihm war der Appetit vergangen. Und wenn er sich beeilte, erwischte er noch den Bus nach Oberau. Hier in diesem Haus, unter einem Dach mit dieser Ziege zu arbeiten, das konnte er sich nicht mehr vorstellen. Er dankte Rupert mit einem Nicken und wandte sich dann wortlos der Tür zu.
»Gritli ist ja auch alles andere als ein strebsames Mädchen!« zischte Barbara ihm zum Abschied hinterher. »Da ich als ihre Lehrerin nun mal als Respeksperson gelte, ist es auch besser, wir bleiben bei dem ›Sie‹. Ein Kind, das gar nicht auf dieser Welt zurechtkommen will, weil es sich lieber auf die Gipfel oberhalb der Wolken flüchtet, braucht strenge Richtlinien.«
Thilo verdrehte nur die Augen. Dann fiel die Tür ins Schloß. Der Schreinermeister war mit seiner Tochter allein. Ein lähmendes Schweigen legte sich über den Mittagstisch.
»Der Mann gefällt mir trotzdem, Bärbelchen«, bekannte Ruppert, nachdem er gegessen hatte. »Jetzt hast du ihn rausgeekelt. Das ist ärgerlich. Ich habe eine gute Menschenkenntnis und halte viel von ihm. Wahrscheinlich lernt er sogar meine Steuer zu machen. Dann bist du entlastet. Seit Monaten suche ich jemanden, der mir einiges abnimmt und der planen und organisieren kann. Hast du mir nicht immer vorgeworfen, ich könnte mich nicht entscheiden?«
»Ja, aber diesmal wirst du es können. Entscheide dich gegen ihn: er ist wie alle Heimhofers. Also keinen Deut besser als dieser Sepp!«
»Und Gritli? Du hast oft davon gesprochen, wie gern du sie hast.«
Sie stocherte in ihrem Kartoffelsalat herum. »Das war nur Mitleid.«
»Unsinn. Es war Fürsorge und Zuneigung.«
»Nein, nichts als Mitleid.«
Sie machte sich ans Aufräumen, und Ruppert bemerkte, wie heiß ihre Wangen glühten. »Und wenn es wirklich Mitleid ist? Warum bürdest du dem Kind jetzt noch mehr Schwierigkeiten auf? Sie kommt doch in Teufels Küche, wenn sich herausstellt, daß sie den Brief wirklich verschwinden ließ. War das deine Absicht? Das Kind trägt keine Schuld daran, wenn ihr Onkel Sepp sich nicht für ihre Schulsorgen interessiert. Ob du das vergessen hast, als Thilo mit am Tisch saß? Der wird sich mit der Situation auf dem Berghof auch schwertun!«
Sie sah ihren Vater nachdenklich an. »Du hast tatsächlich an diesem Angeber einen Narren gefressen?«
Ruppert Lange prüfte sich einige Sekunden. Dann nickte er. Daraufhin nahm sie ihm den Teller weg, stellte ihn auf ihren und trug auch die Schüsseln in die Küche.
»Kannst du dir nicht denken, was das Gritli heute noch von ihrem Vater zu hören bekommt? Der wird ihr die Hölle heiß machen«, rief Ruppert hinter ihr her. »Und erst der Sepp! Der ist doch ein Grobian. Weißt du noch, wie er dem Kind im Frühling eine Tracht Prügel androhte? Du kamst vom Besuch auf dem Berghof zurück und hast es mir fassungslos berichtet.«
Barbara stand schon in der Küche. Ihr wurde noch heißer.
»Ist doch verständlich, wenn Gritli vor lauter Angst den Brief an ihn verschwinden ließ! Und nun wird sie sich auch noch vor ihrem Vater fürchten müssen. Das arme Kind. Endlich ist er wieder da, und schon muß er sie sich vorknöpfen«, spann Ruppert seine Gruselgeschichte weiter.
»Das muß er nicht, wenn er sie liebhat«, erwiderte sie laut.
»Pah!« In seiner Erregung zog er die Schüssel mit dem Obstsalat an sich heran. »So, wie du zu dem geredet hast, bleibt ihm doch gar nichts andres übrig, als dem Kind die Ohren langzuziehen!«
Barbara schloß für Sekunden die Augen. Was war nur mit ihr los? Warum hatte sie sich Thilo Heimhofer gegenüber so aufgeplustert? Sie hatte sich ja richtig aufgespielt wie eine Richterin über Gut und Böse.
Ruppert schlurfte mit der Schüssel Obst in die Küche. »Es ist immer dasselbe mit dir. Mit Männern, die dir gefallen, mein Bärbelchen, gehst arg grob um. Das wird Gritli nun auszubaden haben.«
»Denkst du etwa, dieser Thilo hat mich beeindruckt?«
»Aber sicher! Es ist wohl die Furcht, etwas von deinen Gefühlen zu verraten, wenn Thilo unten täglich ein- und ausgeht und dich, die schöne und strenge Lehrerin, vielleicht links liegen läßt. Ein schmucker Typ ist er ja. Ich verstehe dich, glaub ’s mir.«
Barbara drehte den Wasserhahn so energisch auf, daß einige Spritzer seine Hosen trafen. Er beachtete es kaum. »Nach deiner unglücklichen Liebesgeschichte in München hast du dir eine harte Haut ums Herz wachsen lassen, die dich vor allen Erschütterungen bewahren soll. Und weil du eine gute Lehrerin sein willst, denkst du, du mußt auch nach Schulschluß alles besser wissen und jeden, der nicht gleich vor dir auf die Knie sinkt, abkanzeln.«
Die Teller glitten scheppernd in die Spüle. Energisch griff Barbara nach einer Schürze und band sie sich um.
»Nachdem die alte Theres gestorben war, hast du Monate verstreichen lassen, bis du hoch zum Berghof gefahren bist, um dich für Gritli einzusetzen. Hoffentlich raffst du dich diesmal schneller auf.«
»Aufraffen? Wozu