In allen habituellen Beschaffenheiten, die wir bisher behandelt haben, gibt es, wie auch bei den übrigen Fertigkeiten, einen Zielpunkt, auf den hinblickend der Inhaber der rechten Vernunft seine Kräfte anspannt und einhält, und eine Grenze, jene Mitten nämlich, die nach uns, als der rechten Vernunft entsprechend, zwischen dem Übermaß und dem Mangel liegen.
Diese Bestimmung ist nun zwar richtig, aber noch keineswegs deutlich. Ist es doch bei jedem Geschäft, von dem es eine Wissenschaft gibt, richtig, zu sagen, man müsse dabei der Sorge und der Zuversicht weder zu viel noch zu wenig einräumen, sondern die von der rechten Vernunft gewiesene Mitte halten; aber damit allein weiß man noch nichts besonderes; so weiß man noch keineswegs, was man dem Körper zukommen lassen muß, wenn einem gesagt wird: alles, was und wie die Gesundheitslehre und der mit ihr Vertraute es vorschreibt. Darum ist es auch hinsichtlich der psychischen Beschaffenheiten nicht genug, wenn der aufgestellte Grundsatz wahr ist: es muß auch genau angegeben werden, welches die rechte Vernunft ist, und wie sie sich bestimmen läßt.
Zweites Kapitel.
Als wir die Tugenden der Seele einteilten, haben wir gesagt, (1139a) sie seien teils sittliche oder Charaktertugenden, teils Verstandestugenden. Nachdem wir also die sittlichen Tugenden durchgegangen sind, wollen wir die anderen in der Art erklären, daß wir erst einige Bemerkungen über die Seele selbst hersetzen.
Es wurde weiter oben gesagt, es gebe zwei Seelenteile, einen vernunftbegabten und einen unvernünftigen. Jetzt aber müssen wir den vernunftbegabten wieder ebenso einteilen141. Setzen wir also voraus, daß der vernunftbegabten Teile zwei sind, einer, mit dem wir jenes Sein betrachten, dessen Prinzipien sich nicht anders verhalten können, und einen, mit dem wir betrachten was sich anders verhalten kann. Denn wenn die Objekte der Gattung nach verschieden sind, ist auch der für das eine oder das andere Objekt eingerichtete Seelenteil der Gattung nach verschieden, wenn ja doch die Erkenntnis den erkennenden Potenzen gemäß einer gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft zukommt. Der eine Teil heiße nun der »epistemonische« (scientifische oder wissende), der andere der »logistische« (ratiocinierende oder folgernde). Überlegen nämlich und Gedanken in bestimmter »Folge« verknüpfen ist dasselbe, nun überlegt aber niemand was sich nicht anders verhalten kann. So ist denn ein Teil der vernunftbegabten Seele der ratiocinierende142.
Unsere Aufgabe wird es nun sein, zu ermitteln, welches je die beste Verfassung dieser beiden Teile ist. Denn das ist je ihre Tugend; die Tugend aber richtet sich nach ihrer eigentümlichen Verrichtung.
Dreierlei ist in der Seele, wovon Handlung und Wahrheitserkenntnis abhängt: Sinn, Verstand, Begehren. Unter diesen dreien kann der Sinn kein Prinzip des Handelns sein, was daraus hervorgeht, daß die Tiere zwar sinnbegabt sind, aber an dem, was man Handlung nennt, keinen Anteil haben. Was nun beim Denken Bejahung und Verneinung, das ist beim Begehren Streben und Fliehen. Darum muß, da die sittliche Tugend ein Habitus der Willenswahl und die Willenswahl ein überlegtes Begehren ist, der Ausspruch der Vernunft wahr und das Begehren des Willens recht sein, wenn die getroffene Wahl der Sittlichkeit entsprechen soll, und es muß eines und dasselbe von der Vernunft bejaht und von dem Willen erstrebt werden.
Das ist nun die praktische Vernunft und Wahrheit. Das Gute und Schlechte der theoretischen Vernunft aber, die nicht handelt und nicht hervorbringt, ist Wahrheit und Falschheit, wie das von der Leistung jedes denkenden Vermögens gilt; die Leistung des zugleich praktischen Denkvermögens aber ist jene Wahrheit, die mit dem rechten Begehren übereinstimmt.
Prinzip des Handelns im Sinne des bewegenden, nicht des Zweckprinzips ist die Willenswahl und das der Willenswahl das Begehren und der Begriff oder die Vorstellung des Zweckes. Darum gibt es keine Willenswahl ohne Verstand und Denken einerseits und sittlichen Habitus anderseits. Denn richtiges und verkehrtes Handeln ist ohne Denken und ein Verhältnis zur Sittlichkeit unmöglich.
Das Denken für sich allein aber bewegt nichts, sondern nur das auf einen bestimmten Zweck gerichtete, praktische (1139b) Denken. Von ihm hängt auch das hervorbringende Denken ab. Denn jeder Hervorbringende bringt sein Erzeugnis für einen bestimmten Zweck hervor, und was er hervorbringt, ist nicht schlechthin Zweck, sondern nur mit Bezug auf ein anderes und für ein anderes. Wohl aber ist die Handlung und ihr Inhalt schlechthin Zweck. Denn das richtige Handeln ist ein absoluter Zweck, und auf diesen ist auch das Begehren gerichtet. Und so ist denn die Willenswahl entweder begehrendes Denken oder denkendes Begehren, und das Prinzip, in dem sich beides, Denken und Begehren, verbunden findet, ist der Mensch.
Gegenstand der Willenswahl oder des Vorsatzes kann kein Vergangenes sein, wie sich denn niemand zum Vorsatz macht, Ilium zerstört zu haben; man überlegt oder beratschlagt ja auch nicht über Vergangenes, sondern über Zukünftiges und Mögliches, Vergangenes aber kann unmöglich nicht geschehen sein, weshalb Agathon treffend sagt:
»Denn dies allein, sogar der Gottheit bleibts versagt,
Ungeschehn zu machen, was einmal geschehen ist«143.
So ist denn die Leistung beider vernünftigen Teile die Wahrheitserkenntnis, und in den Beschaffenheiten, vermöge deren sie die Wahrheit am besten erkennen, haben wir jene Tugenden zu erblicken, die beiden eigen sein können144.
Drittes Kapitel.
Um nun die Erörterung über dieselben durchzuführen, müssen wir etwas weiter ausholen.
Der Dinge, durch die die Seele, bejahend oder verneinend, (immer) die Wahrheit trifft, sollen fünf an der Zahl sein; es sind Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und Verstand. Vermutung und Meinung können auch falsches zum Inhalte haben (und scheiden darum hier aus).
Was die Wissenschaft sei, erhellt, wenn, wir die Worte genau nehmen und uns nicht an äußere Ähnlichkeiten in der Redeweise halten wollen145, aus folgendem. Wir alle halten dafür, daß das, was man weiß, sich nicht anders verhalten kann; was sich aber anders verhalten kann, von dem weiß man, sobald man es nicht mehr vor Augen hat, nicht, ob es noch ist oder nicht. Mithin ist was Gegenstand des Wissens ist, aus Notwendigkeit. Mithin ist es ewig; denn alles, was schlechthin aus Notwendigkeit ist, ist ewig, das Ewige aber ist ungeworden und unvergänglich146.
Auch scheint jede Wissenschaft lehrbar und jeder Wissensgegenstand lernbar zu sein. Jede Lehre aber geht von vorher Erkanntem aus, wie wir in der Analytik dartun, sei es, daß sie sich der Induktion oder des Syllogismus bedient. Die Induktion ist auch Prinzip des Allgemeinen, der Syllogismus dagegen geht von dem Allgemeinen aus. Mithin gibt es Prinzipien als Prämissen des Syllogismus, die nicht wieder durch einen Syllogismus gewonnen werden. Mithin tritt hier die Induktion ein147.
Die Wissenschaft ist mithin ein Habitus des Demonstrierens, zu welcher Begriffsbestimmung man weiterhin noch alles andere hinzunehmen möge, was wir in der Analytik angegeben haben. Wo nämlich eine bestimmte Überzeugung ist, und man die Prinzipien kennt, da ist Wissenschaft. Kannte man dieselben nicht vollkommener als den Schlußsatz, so hätte man das Wissen nur zufällig.
So viel stehe denn hier von der Wissenschaft.