Es liegt auch noch insofern Anlaß zu Bedenken vor, als man zweifeln kann, ob jeder, der erlitten hat was Unrecht ist, auch Unrecht leidet, oder ob es sich nicht vielmehr mit dem Erleiden ebenso wie mit dem Tun verhält. Man kann ja an beiden Weisen des Rechts (dem Tun und Leiden) mitfolgend Anteil haben, wie auch an den beiden Weisen des Unrechts. Etwas Unrechtes tun ist ja nicht dasselbe mit Unrechttun, etwas Unrechtes erleiden nicht dasselbe mit Unrechtleiden. Und dieselbe Bewandtnis hat es mit dem Rechttun und Rechtleiden. Denn es ist unmöglich, Unrecht zu leiden, wenn niemand ist, der Unrecht tut oder sein Recht zu leiden, wenn niemand ist, der recht tut.
Und, wenn Unrechttun nichts weiter ist, als freiwillig einen schädigen, und freiwillig schädigen so viel ist, als schädigen mit Erkenntnis der geschädigten Person und des Mittels und der Weise der Schädigung, und wenn z. B. der Unenthaltsame freiwillig sich selber schädigt, so leidet er demnach freiwillig Unrecht, und so wäre es möglich, sich selbst Unrecht zu tun – das ist auch noch eine Schwierigkeit, die der Lösung harrt, ob man sich selbst Unrecht tun kann.
(1136b) Ferner, man kann sich aus Unenthaltsamkeit freiwillig von einem anderen, der ebenfalls freiwillig handelt, Schaden zufügen lassen, so daß es also möglich wäre, mit Willen Unrecht zu leiden.
Oder sollte etwa die gegebene Bestimmung nicht richtig sein, sondern zu der Bedingung, daß die Schädigung mit Erkenntnis der geschädigten Person und des Werkzeugs und des Wie geschehen muß, noch als weitere gehören, daß sie gegen den Willen des Geschädigten erfolgen muß? Geschädigt werden demnach und materielles Unrecht leiden kann man mit Willen, aber förmliches Unrecht leidet niemand mit Willen. Denn das will niemand, auch der Unenthaltsame nicht, vielmehr handelt derselbe nur gegen seinen eigenen Willen. Einerseits will ja niemand solches, was er nicht für tugendhaft hält, und anderseits tut der Unenthaltsame nicht, was er selber glaubt tun zu sollen. Wer aber das Seinige hingibt, wie Homer den Glaukus dem Diomedes geben läßt:
»Die goldene Rüstung für Erz;
Jene war hundert Ochsen an Wert gleich, diese nur neunen«136,
der leidet kein Unrecht; denn es steht bei ihm zu geben, Unrecht zu leiden aber steht nicht bei uns, sondern dazu gehört, daß Einer sei, der Unrecht tut.
So erhellt denn, daß das Unrechtleiden nicht freiwillig ist.
Zwölftes Kapitel.
Noch sind von den Fragen, die wir uns zur Besprechung vorgesetzt haben, zwei zu erledigen, die eine, ob etwa Unrecht tut wer mehr als billig austeilt, oder wer mehr als billig empfängt; die andere, ob man sich auch selbst Unrecht tun kann.
Bezüglich der ersten Frage erhebt sich folgendes Bedenken. Wenn es so sein kann, wie wir oben gesagt haben, daß der, der zuviel austeilt, nicht der, der zuviel erhält, Unrecht tut, so tut einer, wenn er dem anderen mit Wissen und Willen mehr zuteilt als sich, sich selbst Unrecht. Nun aber sind es erfahrungsmäßig grade die bescheidenen Charaktere, die so zu handeln pflegen. Der billige Mann ist ja sich selbst zu verkürzen geneigt. Oder ist es mit der Selbstverkürzung doch nicht so schlechthin richtig? Der Betreffende gewinnt nämlich etwa bei Gelegenheit ein Mehr an anderem Gut, an Ehre z. B. oder sittlichem Verdienste. Eine weitere Lösung dieser Schwierigkeit ergibt sich aus der gegebenen genaueren Bestimmung des Unrechttuns. Dem Manne, an den wir denken, geschieht nichts gegen seinen vernünftigen Willen, daher er auch wegen seiner Liberalität kein Unrecht, sondern, wenn man denn will, nur einen Schaden erleidet.
Es ist aber auch aus positiven Gründen klar, daß immer der zuviel Austeilende, nicht der Empfänger, Unrecht tut.
Nicht der, bei dem sich Ungerechtes vorfindet, sondern der, von dem es wahr ist, daß er dies mit Willen herbeigeführt hat, tut Unrecht. Das ist aber der, in dem der Anfang der Handlung liegt, ein Anfang, der eben in dem Austeilenden, nicht in dem Empfänger zu suchen ist.
Da ferner das Tun vieldeutig ausgesagt wird, und eine Tödtung z. B. auch durch Unbeseeltes und durch die Hand und durch einen von seinem Herrn beauftragten Diener geschehen kann, so tun Diener, Hand und Seelenloses kein Unrecht, sondern blos was unrecht ist (und so tut auch der leidend das zuviel Empfangende kein Unrecht, wohl aber der Austeilende).
Ein Richter endlich, der unwissentlich ein Urteil gefällt hat, begeht kein gesetzliches Unrecht, und sein Urteil ist nicht ungerecht, wenn es auch so gut wie ungerecht ist – denn das gesetzliche (positive) Recht ist ein anderes als das erste, das natürliche Recht (worüber man nicht unwissend sein kann) –; hat er aber wissentlich ungerecht entschieden, (1137a) so teilt er sich auch selbst ein ungerechtes Mehr zu, sei es an Gunst bei der einen, sei es an Rache gegenüber der anderen Partei. Gerade so nun, wie wenn einer sich in ungerechtes Gut mit anderen teilte, hat der, der aus solchen Rücksichten einen ungerechten Spruch gefällt hat, zu viel. Denn auch wer in einem Prozesse über den Besitz eines Ackers (in gewinnsüchtiger Absicht) entschieden hat, bekommt nicht den Acker, sondern Geld.
Dreizehntes Kapitel.
Die Leute meinen nun, es stehe bei ihnen, Unrecht zu tun, und deshalb sei es auch leicht gerecht zu sein. Aber dem ist nicht so. Der Frau des Nachbars beiwohnen, seinen Nächsten schlagen, ihm mit der Hand das geschuldete Geld geben ist leicht und steht in des Menschen Gewalt, aber aus einem festen Habitus heraus so zu handeln, ist nicht leicht und steht nicht ohne weiteres in des Menschen Gewalt.
Desgleichen meint man, Recht und Unrecht zu kennen sei keine besondere Weisheit, da es nicht schwer sei, zu verstehen wovon die Gesetze reden. Aber das ist ja nur mitfolgend das Recht: Recht an sich ist was in konkret bestimmter Weise getan und zugeteilt wird. Und hier immer das Richtige heraus zu finden, erfordert mehr, als z. B. die medizinischen Heilmittel zu kennen. Denn auch hier ist es leicht, die Wirkung von Honig, Wein und Nießwurz, vom Brennen und Schneiden zu kennen; aber zu wissen, wie und bei wem und wann man alles dieses anwenden muß, damit es der Gesundheit diene, ist gerade so schwer, als Arzt zu sein.
Eben darum meint man auch, der Gerechte sei ebenso gut im Stande, Unrecht zu tun, weil der Gerechte ebenso gut, ja, noch besser, die einzelnen Handlungen der Ungerechtigkeit ausführen könne; ebenso gut könne er einem Weibe beiwohnen und Schläge austeilen, als der Mutige den Schild wegwerfen, dem Feinde den Rücken kehren und Hals über Kopf davon laufen könne. Aber feige sein und Unrecht tun heißt nicht eben Handlungen der Feigheit und Ungerechtigkeit begehen außer mitfolgend, sondern sie aus einem bestimmten Habitus heraus begehen, grade so wie Arztsein und Heilen nicht heißt schneiden oder nicht schneiden, Arzneien geben oder nicht geben, sondern es in konkret bestimmter Weise tun.
Das Recht hat seine Stelle unter Wesen, die an den Gütern schlechthin teilhaben und davon ein Zuviel und ein Zuwenig haben können. Es gibt Wesen, die kein Zuviel davon haben können, und dies sind vielleicht die Götter, und wieder Andere gibt es, unheilbar Schlechte, denen kein Teil davon frommt, sondern alles schadet, und endlich gibt es solche, denen sie innerhalb bestimmter Grenzen nützlich sind. Darum ist das Recht ein menschliches Ding.
Vierzehntes Kapitel.
Hiernächst ist von der Billigkeit (Epikie) und dem Billigen zu handeln und zu erklären, wie sich die Billigkeit zur Gerechtigkeit und das Billige zum Recht verhält. Denn bei näherer Betrachtung