»Boston ist in drei Wochen, Tom«, sagte ich kleinlaut und gab mich geschlagen.
»Das reicht dicke, um mich vorzubereiten«, sagte er und trank schnell sein Bier aus. Wir gingen zu seiner Wohnung zurück. Ich war zu feige, ihm zu sagen, dass ich keine Lust hatte, bei ihm zu übernachten. Wir legten uns auf die Klappcouch, aber diesmal schliefen wir nicht miteinander. Er drehte sich beleidigt von mir weg, und ich lag lange wach, starrte an die Decke und war wütend auf mich selbst, weil ich Tom von Boston erzählt hatte und einen Abend und eine Nacht verschwendete. Ich hatte recht damit, niemandem von meinen großen Träumen erzählen zu wollen, denn Mitwisser zerstören sie. Ich hätte warten sollen, bis wir in Boston waren, und ihn dann anrufen können, aber so geht man doch nicht um mit dem Mann, mit dem man schläft, sagte ich mir. Ich wälzte diesen Gedanken hin und her, bis es Zeit war, aufzustehen und mich zum Unterricht zu schleppen.
Tom war nicht da, als Arnie, John und ich uns an der Sporthalle trafen und losliefen, und er war auch nicht da, als wir zurückkamen. Doch in dem Moment, als ich wieder in mein Wohnheim zurückfahren wollte, legte er einen bombastischen Auftritt hin. Es war inzwischen dunkel geworden, und Tom war ganz rot im Gesicht, er schwitzte und wirkte trotzig. Ich sah, dass er hart trainiert hatte und roch die kalte Nachtluft, die von ihm ausging, ein Geruch, den man nicht nach ein paar Minuten an der frischen Luft an sich hat.
»Neun Meilen, das sollte reichen, um es zu schaffen«, sagte er.
»Wow, Tom, du bist einfach mal so neun Meilen gelaufen?« Ich war verblüfft, dass er das aus dem Stand geschafft hatte.
»Ja, du siehst also, dass ich Boston laufen kann.« Ich sagte nichts, ich sparte mir die Bemerkung, dass zwischen neun Meilen und sechsundzwanzig ein himmelweiter Unterschied liegt. Und damit basta. Arnie und ich erläuterten ihm unseren Plan: Wir würden gemeinsam starten, aber wenn einer von uns nicht mehr mitkam, würde der andere weiterlaufen. Da unsere Anmeldungen längst in der Post waren, schickte Tom seine Anmeldung separat ab, aber weil er so spät dran war, würde er sich die Gesundheitsbescheinigung in Boston ausstellen lassen müssen. Das machte mich wütend, weil es eine weitere Verzögerung und mögliche Komplikationen für uns am Start bedeuten könnte. Erst John, jetzt der Große Tom: ungebeten und nicht gut trainiert. Das waren zu viele Variablen.
Kapitel 7 »Raus aus meinem Rennen! Zur Hölle mit dir. Und her mit den Startnummern!«
Im Jahr 1967 fand das American Marathon Race, besser bekannt als Boston Marathon, unter der Schirmherrschaft der Boston Athletic Association am 19. April statt; es war ein Mittwoch und der Patriot’s Day des US-Bundesstaats Massachusetts. (Seit einigen Jahren findet der Boston Marathon jährlich am dritten Montag im April statt, weil die Regierung des Bundesstaats die offizielle Feier des Tages auf dieses Datum festgelegt hat.) Es gefiel mir, dass die Einwohner von Massachusetts einen Gedenktag zur Erinnerung an die jungen amerikanischen Freiheitskämpfer begingen, die 1775 in Lexington und Concord in den ersten Schlachten der Amerikanischen Revolution gekämpft hatten. Der Marathon wurde 1897 als Teil des Patriot’s Day eingeführt, ein Jahr nach der Wiederbelebung der Olympischen Spiele in Athen.
Damals hatten mehrere junge Männer der Boston Athletic Association an den Spielen in Griechenland teilgenommen und waren, fasziniert von einer nostalgischen neuen Disziplin, Marathon genannt, zurückgekehrt. Da der Marathon in Athen an den historischen Lauf eines Boten erinnerte, sollte der Marathon in Boston an den historischen Mitternachtsritt des Kuriers Paul Revere erinnern. Lange dachte ich, die Strecke des Boston Marathons sei die Route des Ritts von Paul Revere, aber Arnie sagte, das stimme nicht. Wie auch immer, die Geschichte der Revolution bedeutete mir viel, und ich war stolz, dazuzugehören. Jedes amerikanische Schulkind kann die Geschichte von dem Schuss erzählen, mit dem der amerikanische Freiheitskrieg begann und Zeilen aus Longfellows Gedicht »Paul Revere’s Ride« zitieren. Als Kind hatte ich in den Sommerferien mit der Familie die historischen Stätten Neu Englands besucht, und nun kehrte ich dorthin zurück, als Teilnehmerin des ältesten amerikanischen Laufs, des größten und des berühmtesten. Ich würde Teil dieser Geschichte werden!
Dennoch erzählte ich bis zum Tag vor dem Lauf niemandem davon und auch dann nur, weil es nicht anders ging. Ich hatte beschlossen, an jenem Mittwoch meine Vorlesung einfach sausen zu lassen, aber ich musste mich bei meinem Kunstprofessor Dr. Edmund Arnold entschuldigen. Er wollte an dem Mittwoch einen Test schreiben lassen, und ich brauchte die Erlaubnis, die Arbeit nachzuschreiben. Da Ehrlichkeit bei dem Arzt auf der Krankenstation so gut angekommen war, beschloss ich, Dr. Arnold die Wahrheit zu sagen. Zuvor aber ließ ich ihn schwören, mich nicht zu verraten. Ich wollte nicht, dass sich die Nachricht wie ein Lauffeuer auf dem Campus verbreitete, denn Dr. Arnold war ein redseliger Mann, der immer schnell in Begeisterung geriet. Ich freute mich sehr über seine aufrichtige Unterstützung, und dann sagte er noch: »Nun, ich erinnere mich an die Zeit des großen Clarence DeMar!« Mensch, dachte ich, dieser DeMar muss ja ein toller Typ gewesen sein.
Als ich meine Sachen am Dienstagnachmittag zusammenpackte, beschloss ich, meine Zimmermitbewohnerinnen einzuweihen, die sich wunderten, dass ich verreisen wollte. Da ich tatsächlich nicht wusste, was alles auf mich zukommen würde – wir könnten ja auch einen Autounfall haben –, sollte doch irgendjemand wissen, wo ich war. Jane, Kaye und Connell hatten mich inzwischen seit Oktober, als ich mit dem Laufen anfing und sie sich darüber amüsierten und mir den Spitznamen Roadrunner gaben (nach dem amerikanischen Laufvogel), als eine gutherzige Exzentrikerin akzeptiert. Ich war unglaublich unabhängig und ziemlich cool, und da sie alle Frauen waren, die Konformität um jeden Preis ablehnten (ausgenommen natürlich Rollkragenpullover, Jeans und Winston-Zigaretten), mochten sie mich inzwischen. Ich musste erklären, was ein Marathon ist, und deutete an, dass ich vielleicht die einzige Frau sein würde. Ich flehte sie an, nichts zu verraten, um nicht in der allerletzten Minute Schwierigkeiten zu bekommen. Sie saßen auf ihren Betten, rauchten, dachten nach und meinten nur: »Okay. Cool.« So als wollten sie sagen: Wen würde es schon interessieren, selbst wenn wir es verraten wollten?
Arnie holte John, Tom und mich ab, und wir machten uns so gegen drei Uhr nachmittags auf die etwa fünfstündige Autofahrt nach Boston. Es war eine sehr unterhaltsame Fahrt, vor allem deshalb, weil Tom in Hochstimmung war; er erzählte Witze, und wir alberten herum. Mir war aufgefallen, dass wir alle, wenn Tom schlechte Laune hatte, angespannt waren, nicht nur ich, und wenn er gute Laune hatte, waren wir alle so erleichtert, dass wir albern wurden. Ich wagte es, Arnie im Beisein von Tom zu fragen, wer Clarence DeMar sei, und einen Moment lang war die Fröhlichkeit wie ausgeknipst. Denn ehe Arnie antworten konnte, schlug sich Tom fassungslos an den Kopf: »Du weißt nicht, wer Clarence DeMar ist? Er war der Größte. Er hat den Boston Marathon sieben Mal gewonnen!« Sogar John kannte Clarence DeMar. Dann sagte Arnie ruhig: »Ja, aber er ist vor einer Million Jahren gerannt«, was hieß, dass Arnie, wie so viele Menschen, nur über die Helden seiner eigenen Generation pausenlos erzählen konnte. Aber Tom, das muss man ihm lassen, kannte jede Sportart von Grund auf samt ihren Helden.
Wir waren in Hochstimmung. Wir fuhren zusammen in einem Auto und teilten uns die Kosten. In Natick, das etwa neun Meilen östlich von Hopkinton entfernt war, wo der Start sein würde, fanden wir ein Motel mit einem »Zimmer frei«-Schild. Ich fand es ritterlich, dass die drei Männer sich ein Zimmer teilten und mir ein Zimmer überließen, obwohl jeder ein Viertel zahlte. Nach dem Abendessen bestand Arnie darauf, uns den Marathonkurs zu zeigen, obwohl es fast zehn Uhr war. Es war bitterkalt und regnerisch, die Nacht war stockdunkel, und wir fuhren die Strecke in Arnies alter Klapperkiste mit den miesen Scheibenwischern ab. Wir konnten wirklich kaum etwas erkennen. Arnie wies begeistert auf jeden Orientierungspunkt, sagte zum Beispiel: »Da ist das Wellesley College! Und das hier sind die Wellesley Berge!« Die Autoscheiben waren beschlagen, wir konnten nichts sehen, und die Fahrt schien eine Ewigkeit zu dauern. Mich überkam ein Gefühl bevorstehenden Unheils. Wir fuhren mit etwa fünfundsechzig Stundenkilometern die Strecke ab, und es dauerte eine Ewigkeit. Schließlich sagten wir, es sei sinnlos, wir müssten sie sowieso laufen, wir wollten lieber schlafen gehen, und widerstrebend wendete Arnie, um zum Motel zurückzufahren. Seitdem bin ich nie wieder eine Marathonstrecke einen Tag vor dem Start mit dem Auto abgefahren. Es ist demoralisierend,