»Das geht nicht. Das ist ein renommiertes Rennen. Du kannst da nicht einfach hingehen und ohne Startnummer teilnehmen. Du bist ein eingeschriebenes Mitglied der AAU und du musst die Regeln respektieren.«
»Genau darum geht es mir, Arnie. Was, wenn ich in Boston nicht willkommen bin?«
»Natürlich bist du willkommen! Du hast die Langstrecke trainiert, was mehr ist, als viele dieser Schwachköpfe dort gemacht haben. Manche dieser reichen Bürschchen von Harvard glauben doch, sie können einfach mitmachen und die sechsundzwanzig Meilen laufen, so als Studentenstreich. Sie springen einfach ohne Startnummer rein und laufen mit der Spitze mit. Idioten! Boston ist nach Olympia der wichtigste Straßenlauf der Welt, du hast dafür trainiert, und jetzt musst du dich an die Regeln halten.«
»Diese Roberta hatte im letzten Jahr keine Startnummer.«
Arnie wurde sehr ernst. »Das hätte sie nicht tun sollen. Das ist ein wichtiges Rennen, für das man sich anmelden und dessen Regeln man befolgen muss. Leg dich nicht mit diesen Boston-Leuten an! Dem BAA! Die sind streng und auch noch etepetete. Und du kennst die AAU!« Schon die Erwähnung der AAU verursachte mir eine Gänsehaut; man konnte nie wissen, wer hier der Joe McCarthy war, der einen wegen irgendeiner Beleidigung oder Verletzung einer Regel, die man nicht mal kannte, auf die schwarze Liste setzte. Arnie und Tom hatten mir erzählt, dass große Sportler in Schwierigkeiten geraten waren, etwa der Langstreckenläufer Wes Santee, der ein Preisgeld verlangte, das die von der AAU akzeptierte Höchstgrenze überstieg. Man hatte ihm daraufhin den Amateurstatus entzogen, obgleich er ein amerikanischer Held war. Man musste also alles richtig angehen.
»Ja, aber was ist, wenn diese Regeln Frauen verbieten, an dem Lauf teilzunehmen? Ich möchte nichts falsch machen. Ich würde mich für Boston lieber nicht anmelden.«
»Ha! Ich wusste, dass du das sagen würdest, deshalb habe ich die AAU-Regeln mitgebracht. Hier.« Er reichte mir ein weiß-blaues Taschenbuch. Dann nahm er es wieder an sich. »Hier. ›Regeln für Cross- und Bahnlauf für Männer‹, und hier, ›Regeln für Cross- und Bahnlauf für Frauen‹, und hier, das dritte Kapitel heißt einfach ›Der Marathon‹. Da steht nichts über das Geschlecht. Außerdem, wenn du dir das Anmeldeformular ansiehst, da steht auch nicht, dass nur Männer laufen dürfen.«
Ich blätterte das Buch durch und sah mir die Wettbewerbe für Frauen an, ich kannte alle Disziplinen – die längste Strecke für Frauen ging über 880 Yards, der längste Crosslauf war eineinhalb Meilen lang. Die Männer hatten noch 3.000 Meter Hindernis und zwei Langstrecken. Ihr Crosslauf ging über siebeneinhalb Meilen. Natürlich würde die AAU Frauen niemals ermutigen, länger zu laufen, und ihnen längere Strecken anbieten.
O nein, ihnen könnte ja schließlich die Gebärmutter herausfallen!
Aber theoretisch hatte Arnie recht. In dem Kapitel über Marathon stand nichts über das Geschlecht der Teilnehmer. Und im Anmeldeformular auch nicht. Aber nur deshalb nicht, da war ich mir sicher, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass ein Mädchen würde laufen wollen – Frauen wären gar nicht daran interessiert, hätten Angst und glaubten das Märchen, der Langstreckenlauf würde sie unweiblich machen. Tatsächlich liefen nur Leute den Marathon, die ein bisschen verrückt waren, so wie Arnie. Nach meiner Erfahrung waren Läufer umso eigenartiger, je länger die Strecke war, auf die sie sich spezialisiert hatten. Nicht nur eigenartiger, sondern auf eine kauzige, aber niemals elitäre Weise auch interessanter. Kein richtiges Mädchen würde auch nur auf die Idee kommen, einen Marathon laufen zu wollen, was zusammen mit den alten Mythen bedeutete, dass die Verfasser des Regelwerks und des Anmeldeformulars sich die Teilnahme von Frauen einfach nicht vorstellen konnten. In einer Million Jahren nicht!
»Ich werde mich anmelden«, sagte ich seufzend und dachte an den Wirbel in Lynchburg, als ich mit einer offiziellen Startnummer für die Männer gelaufen war. Diese öffentliche Reaktion hatte mich überrascht, aber sie war auch schnell wieder verpufft. Außerdem hatte ich nicht daran gezweifelt, dass ich die eine Meile schaffen würde. Aber dies war ein Marathon, und auf sechsundzwanzig Meilen konnte viel passieren. Alles, was ich wollte, war, nicht aufzufallen und den Marathon zu laufen.
»Ja, man wird auf dich achten, aber du bist doch daran gewöhnt. Du bist immer das einzige Mädchen, egal, wo wir sind.« Arnie klang stolz, als er das sagte.
Ich ging nach oben und holte meine AAU-Mitgliedsnummer. Humpelte wieder nach unten und füllte das Anmeldeformular aus. Unter Name schrieb ich in Druckbuchstaben »K. V. Switzer«, und so unterschrieb ich auch. Es hatte mir immer gefallen, mit meinen Initialen zu unterzeichnen, ich kam mir dabei stark und schnell vor. »Drei Dollar, bitte.« Ich reichte ihm das Geld. »Okay, und jetzt geh in die Krankenstation und lass dir bescheinigen, dass keine gesundheitlichen Einwände gegen die Teilnahme an einem Marathon bestehen. Wir wollen keine Zeit damit verschwenden, uns bei den Ärzten in der Hopkins High School anstellen zu müssen, nur damit jemand dein Herz abhört. Außerdem laufen die Männer nackt in der Turnhalle rum, und das wäre dir peinlich.«
Arnie machte sich wieder auf den Weg zur Post, und ich ging zur Krankenstation. Ich war übermütig genug, die Wahrheit zu sagen, dass ich sechsundzwanzig Meilen laufen wollte, dass ich im Training bereits einunddreißig Meilen geschafft hatte und sicher war, fit zu sein. Der Arzt, ein beleibter Typ in den Sechzigern, strahlte. Er sagte, er könne sich an die Tage von Clarence DeMar erinnern, den siebenfachen Boston-Gewinner. »Mein Gott, das ist ja toll!« Er horchte mein Herz ab, maß den Blutdruck. Dann bat er mich, die Treppen mehrmals rauf- und runterzulaufen, um mich dann erneut abzuhorchen. »Fit wie ein Turnschuh!«, rief er laut. Er schrieb genau die Bescheinigung aus, die ich brauchte und benutzte den Namen aus der Patientenkartei: Kathy Switzer. »Viel Glück, viel Glück!«, rief er mir noch nach, als ich sein Sprechzimmer verließ. Diese Erfahrung baute mich auf. Ihn vielleicht auch. Möglicherweise war ich seit Wochen die erste Studentin in seiner Praxis, die nicht wegen eines nervösen Zusammenbruchs rumheulte, die nicht aus heiterem Himmel schwanger war oder sich unter mysteriösen Umständen einen Tripper eingefangen hatte. Boston! Ich fuhr nach Boston!
Ich gab Arnie die Bescheinigung beim Training am nächsten Tag. Wir wollten fünf Meilen joggen, normalerweise eine leichte Übung, aber diesmal war es eine Tortur. Meine Oberschenkelmuskeln waren wie Hackfleisch. Meine Hüfte schmerzte stechend zwischen Oberschenkelknochen und Gelenkpfanne. Ich hatte keine bestimmte Verletzung, ich war wie zerschlagen. Aber schlimmer als die schockierenden Blasen waren meine Zehennägel, die so aufgeschwollen waren vor Blut, dass ich nicht in meine Schuhe kam. Ich musste in die Spitzen meiner schönen blauen adidas-Schuhe, die endlich aus Deutschland gekommen waren, ein dreieckiges Loch schneiden. Das brach mir das Herz. Es waren die teuersten Schuhe, die ich je besessen hatte und die ersten, die mir richtig gefielen. Jetzt musste ich sie verstümmeln, um sie überhaupt anziehen zu können.
Aber die Funktion stand an erster Stelle, das wurde mir immer mehr bewusst, so als müsste ich in den Krieg ziehen. Ich beschränkte mich auf das Wesentliche, befreite mein Leben von allem Überflüssigen, entledigte mich des Schnickschnacks. Mit einer Ausnahme: Ich wollte mir ein schönes Outfit für den Marathon zusammenstellen. Das war nicht leicht, denn modische Aspekte wurden beim Sport kaum berücksichtigt. Doch was gut aussah, musste auch funktional sein, wenn man einen Marathon laufen wollte.
An wärmeren Tagen probierte ich im Training verschiedene Shorts aus, aber die meisten scheuerten hoffnungslos und zwar aus einem einfachen Grund: Sie waren für den männlichen Körperbau zugeschnitten, nicht für die breiteren Hüften einer Frau, ihre weicheren Schenkel. Die kleine Fläche auf den Innenseiten der Oberschenkel wurde besonders schnell wund – und wenn dann noch salziger Schweiß auf die aufgescheuerte Haut kam, blieb auch die beste Läuferin stehen. Arnie hatte in seinem Kofferraum einen ganzen Sack mit Sportkleidung, die er im Lauf der Jahre in den verschiedenen Umkleideräumen eingesammelt hatte. Es müssten sich doch ein paar graue Shorts mit weiten Beinen für mich finden lassen! Burgunderrot war die angesagte Farbe in jenem Jahr, und ich hatte ein burgunderrotes feingestricktes Oberteil, das funktional war und gut aussah. Ich war damit gelaufen und es ging prima, also färbte ich die Shorts in der passenden Farbe. Ich ruinierte dabei das alte Porzellanwaschbecken im Huey Cottage, und die Hausmutter rastete völlig aus, aber ich wurde