Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Bouxsein
Издательство: Bookwire
Серия: Mordkommission Frankfurt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783939362111
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sagte er entspannt zu Till.

      »Und besuchen dann ganz entspannt diese Julia Silber und dann das Architekturbüro Silber und dann den Herrn Otto Silber im Heim?«

      »Hast du was anderes vor?«

      »Ich habe noch ein paar Berichte zu schreiben und wollte mal wieder auf den Schießstand.«

      »So etwas macht man bei Regenwetter«, winkte Siebels ab.

      »Du bist heute irgendwie anders«, stellte Till fest.

      »Ich ruhe in mir.«

      »Ich bin echt froh, wenn die Hochzeit vorbei ist und alles wieder seinen gewohnten Gang geht«, seufzte Till.

      Siebels lächelte nur selig vor sich hin. Er behielt seinen zufriedenen Gesichtsausdruck auch bei, als sich sein Handy mit dem Lied von Pippi Langstrumpf meldete. Till tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Wer hat dir diesmal den Klingelton ausgesucht?«, fragte er gespielt genervt.

      »Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt«, sang Siebels heiter im Duett mit seinem Handy, bevor er den Anruf entgegennahm.

      »Ich habe was gefunden«, ließ Charly ihn wissen.

      »Ich auch. Und zwar die Ruhe in mir selbst. Und was hast du gefunden?«

      »Das Ende deiner Ruhe«, sagte Charly und klang so, als meine er es ernst. »Im Archiv bin ich auf eine Akte gestoßen, die zu der Aussage von unserem greisen Herrn Silber passen könnte. Ein ungeklärter Mord vom August 1960.«

      »Das ist ja über fünfzig Jahre her. Da gibt es noch Akten?«

      »Gibt es. Wenn man weiß, wo man suchen muss. Und wenn man keine Stauballergie hat.«

      »Und? Was steht drin in der Akte?«

      »Das Mordopfer hieß Juliane Mangold. Und damit passt die Akte zur Aussage von unserem Herrn Silber. Also pass auf: Juliane Mangold wurde am 15. August 1960 in ihrer Wohnung in Oberrad erschlagen. Sie wurde nur 22 Jahre alt. Es gab anscheinend keine einzige heiße Spur. Keine verwertbaren Zeugenaussagen, kein gar nichts. Aber Juliane Mangold hatte eine Tochter. Silvia Mangold. Die war damals gerade mal zwei Jahre alt. In der Akte wurde nachträglich eingetragen, dass das Kind von den Großeltern aufgenommen wurde. Von den Eltern der Ermordeten.«

      »Von Otto Silber steht nichts in der Akte? Keine Zeugenaussage?«

      »Nein, nichts.«

      »Aber er hat mit der Polizei gesprochen, hat er gesagt. Jedenfalls hat er was von einem Inspektor gesagt.«

      »Inspektor? Der ermittelnde Beamte war damals ein gewisser Kommissar Heuerbach. Inspektoren gab es bei uns auch damals nicht. Vielleicht hat der gute Herr Silber früher zu viel Inspector Columbo im Fernsehen geschaut und bringt das jetzt durcheinander?«

      »Mag sein«, überlegte Siebels. »Bring die Akte bitte in mein Büro. Ich melde mich später bei dir.«

       Beim Loserknutschen hatte ich den Hauptpreis gewonnen und lag nun neben Julia in ihrem Bett. Wir lebten sorglos in den Tag hinein und vergaßen alles, was wir uns eigentlich für diesen Tag vorgenommen hatten. Wir küssten uns, alberten herum, machten eine Kissenschlacht, stiegen zusammen unter die Dusche, frühstückten gemütlich und legten uns dann wieder ins Bett. Julia trug nur ein knappes Höschen, ich hatte gar nichts an und auch nichts Frisches dabei. Aber das war auch nicht nötig. Um die Mittagszeit lagen wir bäuchlings nebeneinander und betrachteten uns Fotos auf Julias Laptop. Hauptsächlich Familienfotos. Ich hatte Julia gefragt, ob sie Foto-Alben hätte. Habe ihr gesagt, dass ich mir ihr Leben gerne von Anfang an betrachten würde. Von den ersten Säuglingsbildern über die Fotos von glücklichen Kindheitstagen. Bilder von der Einschulung, von den ersten Schulfreundinnen, vom ersten Abschlussball der Tanzschule. Schnappschüsse von wilden Partys während der Abiturzeit und Urlaubsbilder vom Strand. Julia hatte tatsächlich Unmengen von Fotos auf ihrem Laptop gespeichert und gab nun kichernd ihre Kommentare dazu ab. Sie war auf fast allen Fotos zu sehen. Julia liebte die Kamera und die Kamera liebte Julia. Sie wirkte immer heiter und schien unentwegt zu lachen. Neben Julia betrachtete ich mir mit großer Neugier auch die anderen Frauen auf den Bildern. Julias Mutter Eva Silber war eine attraktive Frau. Aber ihr fehlte die Unbekümmertheit und Lebensfreude, die ihre Tochter unentwegt ausstrahlte. Glücklich sah sie immer dann aus, wenn sie allein mit ihrer Tochter abgelichtet wurde. Als Julia noch klein war, zeugten die Fotos von einer glücklichen Familie. Robert, der drei Jahre älter war als seine Schwester, machte auch als Dreikäsehoch schon den Eindruck eines kleinen Arschlochs. Hinter seinem kindlichen Gesichtsausdruck verbarg sich schon früh das Gehabe eines nach Anerkennung und Bewunderung suchenden Menschen. Hartmut Silber, das Familienoberhaupt, war meist sichtlich stolz auf seine kleine Familie. Seinem Sohn Robert schien spätestens seit der Pubertät das Wort »Anführer« auf der Stirn geschrieben zu stehen. Wahrscheinlich hat sein Vater ihm das eingetrichtert. Weil er aber eben doch nicht zum Anführer geboren war, hat er sich zu einem schlechten und nur schwer erträglichen Schauspieler entwickelt. Ein Schauspieler, der nur eine Rolle spielt. Die Rolle des Anführers. Eine Rolle, in der er von seiner Familie und vielleicht von ein paar unterbelichteten Freunden zumindest oberflächlich akzeptiert wird. Eine Rolle, die ihm sein wahres Ich und seine Authentizität gestohlen hat. Seine Schwester ist das genaue Gegenteil. So wie sie jetzt neben mir lag, so offen und ohne jede Scheu, so wirkte sie schon zeit ihres Lebens. Ich fragte mich, ob ihre Mutter früher auch so unbekümmert war und erst nach einigen Ehejahren die nachdenkliche Miene bekommen hatte. Während ich mir Eva Silber auf dem Bildschirm betrachtete, küsste ich Julia sanft auf die Schulter. In Gedanken schmeckte ich schon die Haut ihrer Mutter, die ich bald kennen zu lernen gedachte.

       Hauptsächlich auf den Bildern von Familienfeiern konnte ich mir Melanie und Max eingehend betrachten. Die Kinder von Hermann und Hannelore Silber unterschieden sich von Robert und Julia. Melanie machte immer einen sehr vernünftigen und erwachsenen Eindruck. Sie sah Julia etwas ähnlich, strahlte aber einen ganz anderen Charakter aus. Melanie war die Zielstrebige. Ihr fiel nicht alles vor die Füße, so wie ihrer Cousine. Sie steckte sich Ziele und setzte alles daran, diese auch zu erreichen. Warum sie wie alle Silbers auch Architektur studierte, war mir nicht ganz klar. Ich hätte sie eher als Ärztin oder Juristin gesehen. Sie war bestimmt nicht so leicht ins Bett zu kriegen wie Julia, aber das machte die Sache noch interessanter. Wenn man ihr Herz erst mal gewonnen hatte, ließe sich auch das Feuer der Leidenschaft in ihr entzünden, redete ich mir ein. Melanies Bruder Max war ebenfalls eher der zurückhaltende Typ. Er ließ seinem Cousin Robert immer den Vortritt und hielt sich selbst lieber im Hintergrund auf. Auf Max musste ich aufpassen. Er war am ehesten in der Lage, die Dinge zu durchschauen. Er war ein Skeptiker und Analytiker. Immer adrett gekämmt, immer mit Brille, immer gut gekleidet. Polohemden mit einem grünen Krokodil auf der Brust mochte er besonders gerne. Die Eltern der beiden machten einen langweilig konservativen Eindruck. Hermann Silber war zwei Jahre älter als sein Bruder Hartmut und seine Ehe mit Hannelore war eine Konstante in seinem Leben. Hannelore war nun Anfang fünfzig und sie hatte nichts an sich, was mich reizen könnte.

       Als Julia den Laptop zuklappte, klappte sie auch das bisherige Leben der Familien Silber zu. Nun würde für die Silbers ein neues Zeitalter beginnen. Mit dieser Einsicht legte ich mich auf Julia, sah in ihre strahlenden Augen und drang seufzend in sie ein. Das Tor zur Familie Silber stand nun weit offen.

      Siebels saß wieder hinter Till auf der Gold Wing. Das Architekturbüro Silber beherbergte seine Räumlichkeiten im Kettenhofweg im Frankfurter Westend. Die Fahrt auf der schweren Maschine dauerte wieder nur wenige Minuten. Der Kettenhofweg verlief parallel zur Bockenheimer Landstraße, welche die Alte Oper mit der Bockenheimer Warte verband, wo Siebels und Till eben noch gemütlich gesessen hatten. Als Till die Maschine durch den Kettenhofweg lenkte, wurde Siebels an einen alten Fall erinnert. In dieser Gegend hatte auch der Immobilienmakler Peter Arenz seine Büroräume gehabt. Dessen zwielichtige Assistentin Petra Schneider wurde während der Ermittlungen als Verdächtige in einem Mordfall gehandelt. Das hatte Till nicht davon abgehalten, mit der langbeinigen Blondine ins Bett zu steigen. Siebels versuchte diese alte Geschichte