»Ist Jana die Kurzform von Juliane?«
»Ich glaube, Jana ist ihr richtiger Name. Wie er auf Juliane kommt, kann ich mir jetzt auch nicht erklären. Aber vielleicht gab es mal eine Juliane in seinem Leben. Das könnte auch 60 oder 70 Jahre her sein. Vielleicht seine erste große Liebe, die er jetzt wiederentdeckt hat.«
»An einem kleinen blauen Stück Himmel, ganz weit weg«, ergänzte Siebels.
»Genau. Ich mag diesen Vergleich mit dem Himmel. Die Angehörigen verstehen gleich viel besser, was mit ihren Lieben los ist, wenn die von der Demenz heimgesucht werden. Das erleichtert das Zusammenleben ungemein, wenn man sich eine Vorstellung von dem macht, was so ein Mensch erleidet.«
»Ja, das stimmt. Mir erscheinen die Verhaltensweisen von Herrn Silber jetzt auch nachvollziehbar. Allerdings kann ich auch nicht mehr ausschließen, dass Herr Silber tatsächlich einen Mord melden wollte. Vielleicht einen Mord, der schon 50, 60 oder 70 Jahre zurückliegt. Ich würde mich gerne mit dieser Jana Mangold mal unterhalten. Wissen Sie, ob sie verreist ist?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich weiß es nicht.«
»Können Sie mir ihre Telefonnummer geben?«
»Hat das nicht Zeit bis nächste Woche? Dann ist sie doch wieder hier und kann sich bei Ihnen melden.«
»Leider nein. Ich bin bei der Mordkommission und muss jedem Hinweis auf einen Mord unverzüglich nachgehen.« Siebels staunte über seine eigenen Worte. Auf dem Präsidium hatte er die Aussage von Otto Silber nicht als ermittlungswürdig eingestuft. Jetzt witterte er aber eine Spur und er wollte nicht eine Woche ins Land ziehen lassen, ohne etwas zu unternehmen. Frau Hebenstein schrieb ihm die Telefonnummer von Jana Mangold auf.
2
100 Tage vor Roberts Tod
Julia war die kleine Prinzessin in dem Clan. Stets nett, freundlich, aufgeschlossen und voller Neugierde allem Neuen gegenüber. Sie strahlte eine Natürlichkeit aus, die ihrem großen Bruder Robert völlig abging. Robert führte einen stetigen Eiertanz auf, um seinem Anspruch als Anführer gerecht zu werden. Julia hingegen schaffte es, allein mit ihrem entzückenden Lächeln die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihr goldbraunes, langes Haar schien stets zu schimmern, die Grübchen in ihren Wangen verliehen ihr eine mädchenhafte Unschuld. Sie trug mit Vorliebe enge Jeans und rote, grüne oder blaue Turnschuhe von Converse. An warmen Tagen begnügte sie sich mit einem engen T-Shirt, unter dem sich die Knospen ihrer kleinen festen Brüste abzeichneten. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie zumindest an warmen Tagen keinen BH trug. Sie kokettierte nicht, wenn sie über den Campus lief, sie strahlte einfach diese kindliche Unbekümmertheit aus, mit der sie dem Leben begegnete. Sie erntete viele Blicke, von Jungs wie von Mädchen, die sie aber gar nicht zu registrieren schien.
Auf der Erstsemesterparty begleitete sie mich wie selbstverständlich an die Bar und ließ sich einen Drink von mir spendieren. Es dauerte nicht lange, bis Robert bei uns auftauchte. Er würdigte mich keines Blickes. Er versuchte nur, die Aufmerksamkeit seiner Schwester wieder auf sich zu ziehen und sie mir somit zu entziehen. Er faselte etwas von einer privaten Party, wo sie noch hingehen wollten. Julia und ich saßen nebeneinander auf Barhockern. Ich legte meine Hand auf Julias Oberschenkel und ließ sie dort liegen. Julia ließ mich gewähren, Robert schenkte mir nun doch einen Blick. Einen sehr missbilligenden Blick. Ich nahm die Herausforderung an und ließ meine Hand sanft über Julias Oberschenkel streifen.
»Kommst du nun mit oder nicht?«, fragte Robert seine Schwester etwas ungehalten.
»Ich überlege es mir noch. Vielleicht komme ich nach«, gab ihm Julia unbeschwert zur Antwort. Robert nickte unwirsch und zog wieder ab.
»Das war dein Bruder, oder?«, fragte ich scheinheilig und drückte leicht ihren Schenkel.
»Ja, Robert ist mein Bruder. Er studiert auch Architektur, ist aber schon ein paar Semester weiter.«
»Und er passt gut auf seine kleine Schwester auf«, flüsterte ich Julia ins Ohr.
»Es gelingt ihm aber nicht immer«, gab mir Julia verschmitzt zur Antwort und schaute mir dabei tief in die Augen.
»Er hat mich so böse angeschaut, als ich meine Hand auf deinen Schenkel gelegt habe«, sagte ich im gleichen verschmitzten Tonfall. »Aber ich kann sie nicht mehr wegnehmen. Es geht einfach nicht. Du ziehst mich an wie ein Magnet.« Ich tat so, als wollte ich meine Hand mit aller Kraft von ihrem Schenkel ziehen. »Deine Anziehungskraft ist einfach unglaublich«, sagte ich dann augenzwinkernd.
Julia beugte ihren Kopf ganz nah zu meinem. »Das würde ich jetzt gerne testen«, konterte sie und bot mir ihren Mund mit leicht geöffneten Lippen an. Als Robert wieder bei uns auftauchte, hatte ich nicht nur meine Hand auf Julias Schenkel, sondern auch meine Zunge in ihrem Mund.
»Wir hauen jetzt ab«, rief Robert und baute sich genau vor uns auf. »Kommst du mit oder willst du hier noch einen Preis beim Loserknutschen abräumen?«
Ich ignorierte Robert und konzentrierte mich ganz auf den süßlichen Geschmack von Julias Lippen. Julia vollendete unseren Zungenkuss noch unbekümmert vor den Augen von Robert, bevor sie darauf einging.
»Ich glaube, ich habe Chancen auf den ersten Preis beim Loserknutschen. Geht mal ohne mich. Bis morgen. Tschüüüs.«
»Küss mich, du Loser«, neckte Julia mich, nachdem Robert ohne sie abgezogen war. Ich küsste sie, schlängelte meine Zunge zwischen ihre Lippen und den Keil zwischen ihre Familie. Meine Anziehungskraft war nämlich mindestens so groß wie die von Julia.
Dienstag - Erster Tag nach Roberts Tod
Steffen Siebels war seit längerer Zeit wieder einmal vor 8:00 Uhr im Büro gewesen. Zum Abbau seiner unzähligen Überstunden war er die letzten Wochen selten vor 9:00 Uhr am Arbeitsplatz erschienen. Sein Kollege Till Krüger hielt es genauso. Den erwartete Siebels auch heute nicht vor 10:00 Uhr. Seit einiger Zeit schwebte Siebels auf Wolke sieben. Sein Hochzeitstermin rückte immer näher. Seine Tochter aus erster Ehe wollte anreisen. Siebels hatte sie bestimmt seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Nach der Scheidung war sie mit ihrer Mutter Hals über Kopf nach Berlin gezogen. Damals stand Siebels vor einem privaten Scherbenhaufen. Überschuldet und verlassen stürzte er sich in die Arbeit. Seine Aufklärungsquote war sensationell. Dann bekam er Verstärkung. Till Krüger stand noch ganz am Anfang seiner Laufbahn als Kommissar. Zwischen Siebels und Till herrschte von Anfang an eine harmonische Zusammenarbeit. Bei ihrem ersten gemeinsamen Fall arbeiteten sie auch mit Sabine Karlson zusammen. Und beide verliebten sich in die sympathische Beamtin von der Sitte. Für Siebels sollte es die Frau des Lebens werden. Till dagegen hatte seitdem mehrere Beziehungen gehabt, die allesamt nicht von langer Dauer waren. Mittlerweile traf er sich öfter mit Anna Lehmkuhl. Die junge Gerichtsmedizinerin war beliebt und anerkannt und die Kollegen, die Till kannten, mussten schmunzeln, als Till seine Werbungsversuche startete. Aber auch Till war in den letzten Jahren reifer geworden. Siebels gewährte ihm mehr und mehr Freiheiten bei der gemeinsamen Arbeit. Er selbst verspürte in letzter Zeit eine gewisse Abnutzung, nachdem er jetzt schon seit zwanzig Jahren bei der Frankfurter Mordkommission tätig war. Während er früher unermüdlich an der Wahrheitsfindung gearbeitet hatte, überfielen ihn jetzt manchmal Zweifel, wenn er einem Täter auf der Spur war. Beim letzten Fall wurde er von Albträumen geplagt, weil er befürchtete, eine unschuldige Frau des mehrfachen Mordes zu beschuldigen. Wenn Till nicht in letzter Minute eines fulminanten Finales eingegriffen hätte, wäre der Fall auch in einem Desaster geendet. Letzten Endes wurde die Mörderin aber überführt