vom Samstag auf den heutigen Sonntag verlegt hatten. Die Saptiehs liefen hin und her, ihre Knüppel oder Gewehre schwingend. Genau konnte man das nicht unterscheiden. Ein entrückter Zickzack kleiner Gestalten. Vielleicht schlugen die Gendarmen schon jetzt mit ihren Knuten drein. Doch kein Laut der Empörung und des Jammers verirrte sich hierher. Die Ferne dämpfte das Furchtbare zu einem mattbelebten Bild. Tomasian mußte sich erst innerlich zu dem Bewußtsein überreden, daß sich im Kreisausschnitt des Fernglases dort unten nicht ein puppenhaftes Schauspiel begebe, an dem er keinen Anteil habe, sondern sein eigenes Schicksal. Aram sagte sich immer wieder, daß er sich aus der Schar dieser Vertriebenen, die in der Staubwolke des Tales ihren Todesgang antraten, nur geflüchtet habe, um für ein paar Tage sein Erdendasein zu verlängern. Hier oben in der Eiche war es so schattenwohlig. Den Körper, durchströmte ruhevolles Behagen. Die Wirklichkeit des Tales löste sich in winzige Bewegtheiten auf, die das Auge spannten, dem Herzen aber gleichgültiger blieben als ein Traum. Pastor Tomasian fuhr unter der Erkenntnis seiner kaltherzigen Schuld zusammen. Dorthin gehörte er und nicht hierher. Vor seinen Sinnen erstand das Missionshaus von Marasch. Reverend C. E. Woodley, der ihm von Gott gesandte Prüfer, stellte noch einmal die schillernde Fallenfrage: »Kannst du den Kindern helfen, wenn du mit ihnen in den Tod gehst?« Nun aber hatte er dort in Bitias zum zweitenmal die Gelegenheit versäumt, sein Leidenszeugnis vor Christus zu verbessern. – Es dauerte noch lange, quälend lange, ehe sich der Zug seines greisen und doch um so viel gerechteren Amtsbruders Harutiun Nokhudian in Bewegung setzte. Im übrigen hatte der sommersprossige Müdir den Verschickten zweifellos einige Vergünstigungen gewährt. Die vielen Packesel schritten im Zug, dem sogar ein paar Karren mit ihren in der Staubwolke hopsenden Vollrädern folgten. Und Pastor Aram Tomasian sah, was er in den sieben letzten Tagen von Zeitun so oft gesehen hatte: Ein kranker, sterbensmatter Menschenwurm, eine schwärzliche Raupe mit zitternden Fühlern, Borsten und Füßchen, wand sich zertreten durch die Landschaft, ohne vom Fleck zu kommen. Das wunde preisgegebene Tier schien in der offenen Talfalte vergebens ein Versteck zu suchen. Mit peristaltischen Rucken schob es die vordersten Leibringe vor und zog die hinteren schmerzhaft nach. Tiefe Kerben entstanden so, und oft zerriß die schleichende Raupe in mehrere Teile, die, von ihren kaum sichtbaren Peinigern bedrängt, schlecht und recht zusammenwuchsen, um an der kaum vernarbten Stelle wieder auseinanderzubrechen. Es war nicht das Kriechen, sondern der zuckende Todeskampf eines Wurms, ein letztes Sichringeln, Strecken und Krampfen, während die Aasinsekten sich schon über die offenen Wunden hermachten. Fast wie ein Wunder wirkte es, daß zwischen dem Wurm und den Dörfern sich nach und nach ein Abstand bildete, wenn auch unerträglich langsam. Es sind einige schwangere Frauen darunter, überlegte Pastor Aram. Und sofort fiel ihm der Gedanke an Howsannah aufs Herz. Verschiedene Anzeichen sprachen dafür, daß die Stunde seiner Frau unmittelbar bevorstehe. Keinerlei Vorsorge war getroffen worden und konnte getroffen werden. Sein erstes Kind würde unter ebenso rauhen Umständen zur Welt kommen wie irgendein Tierchen des Musa Dagh. War dies schon schlimm genug, so bedrückte Tomasian noch tiefer eine unbestimmte Angst, die er um seiner Sünde willen für die Kreatur im Mutterleibe empfand. Er ließ das Zeiß-Glas sinken und klammerte sich, wie vom Schwindel erfaßt, mit beiden Armen an die stärksten Äste der Gabel, in deren Mitte er saß. Als er nach einiger Zeit wieder den Feldstecher vors Auge nahm, hatte sich das Bild etwas verändert. Der Wurm wand sich jetzt durch Azir, das Raupendorf. Ein Trupp von Saptiehs aber hatte sich losgelöst und marschierte in nordöstlicher Richtung, Bitias im Rücken lassend, auf Kebussije zu. Pastor Aram sandte unverzüglich Botschaft an das Hauptquartier. Die Gefahr ging schnell vorüber. Die Saptiehs schwenkten nicht gegen den Nordsattel des Damlajik ein, sondern verzogen sich die ansteigende Talsohle hinan. Sie suchten, durch Pastor Harutiun Nokhudian verwirrt, auf falscher Fährte. Das Land lag still. Auf den Plätzen und Wegen der verlassenen Dörfer lungerten einige hundert Moslems umher. Die durch den Beutegeruch verlockten Mohadschirs aus dem Nordwesten und das einheimische Lumpenpack der Ebene. Das Gesindel schien von den Häusern noch nicht Besitz ergriffen zu haben. Vielleicht nahm ihm irgendein Regierungsbefehl vorläufig den Appetit. Wie träge Brummfliegen taumelten die Guten zwischen den Häusern. Die Gendarmerieabteilung verschwand noch vor Kebussije in ein östliches Seitental, ein Beweis ihrer völligen Ahnungslosigkeit. Jähe Hoffnung: Vielleicht sind dem Volke noch viele Friedenstage gewährt, vielleicht lassen die Türken den Musa Dagh überhaupt links liegen.
Pastor Aram sprang von seinem Spähersitz hinab. Von allen Seiten schollen die Axthiebe der Holzfäller aus den dunklen Schluchten. Tomasians Vater begann weithin hörbar mit dem Bau in der Stadtmulde. Gabriel Bagradian hatte angesichts der irregeführten Saptiehs der ganzen Mannschaft und Reserve den Tag für die Errichtung der Laubhütten freigegeben. Der Pastor fühlte, daß auch für ihn die Stunde der Tat gekommen war. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Mochte sie hinter seiner höchsten Pflicht zurückbleiben, auch auf diesem minderwertigeren Boden war es nicht leicht, die Prüfung zu bestehen. Der Zweifel und die lähmenden Anwandlungen des Schuldgefühls mußten für immer überwunden werden. Wenn er sich auch nicht als Heiliger des Herrn erwiesen hatte, so konnte er noch immer als Soldat Christi gelten und Tüchtiges leisten. Mit großen Sprüngen legte er den beträchtlichen Weg ins Lager zurück, um keine Minute seiner Pflicht zu versäumen. Dort herrschte ein unbeschreiblicher Arbeitstrubel. Lange Züge von Packeseln nickten vorbei, die mächtige Bürden von Eichen-, Buchenlaub und Nadelzweigen trugen. In Schubkarren wurden schwere Steine für die notwendigen Unterbauten herangerollt. Vater Tomasians Gehilfen maßen mit dem langen Meßband die Straßen aus und steckten den Raum der einzelnen Hütten ab. Schon stand da und dort bereits das schwanke Gerüst einer Wohnstätte. Die Familien wetteiferten miteinander in Geschwindigkeit. Nicht nur die starken Männer und Frauen arbeiteten, sondern auch die Kinder und die Uralten. Der Bau der öffentlichen Gebäude war schon in überraschendem Fortschritt begriffen, der Lazarettschuppen unter Bedros Altounis Aufsicht und der große Speicher. Meister Tomasian aber überwachte das Entstehen der Regierungsbaracke, die ein Werk seines Herzens war. Sie umfaßte einen großen Raum mit zwei Seitenkojen, der, aus Sicherheitsgründen, nach außen durch eine Tür mit einem Schloß versperrbar sein sollte.
Inzwischen richtete auch Juliette ihr Leben auf dem Dreizeltplatz ein. Gabriel hatte sie ausdrücklich gebeten, auf niemand und nichts Rücksicht zu nehmen, auch nicht auf ihn. Alle anderen seien durch Volksangehörigkeit gezwungen, ihr Los zu tragen, wie es falle. Sie aber habe nichts damit zu tun, sie sei ein unschuldiges Opfer und daher berechtigt, jegliche Forderung zu stellen, die nur halbwegs erfüllbar sei. Auch in einer Sitzung des Führerrates hatte Gabriel Bagradian diese Sache zur Sprache gebracht:
»Meine Frau hat auch hier auf dem Damlajik das Recht, ihr eigenes Leben zu leben, gesondert und nach ihrem Belieben. Ehe ist keine Blutsverwandtschaft. Wir anderen alle sind durch das Blut miteinander verbunden und daher auch den Gesetzen unterworfen, die wir uns gegeben haben. Sie aber steht außerhalb dieser Gesetze. Sie ist Französin, eine Fremde, ein Kind glücklicherer Völker, vom Schicksal gezwungen, unser Leiden mitzuleiden. Sie wird folglich die großmütigste Gastfreundschaft unseres Volkes genießen.«
Alle Mitglieder des Führerrates verstanden sofort Bagradians Appell an die Gastfreundschaft: die drei Zelte, die allein Juliette vorbehalten waren, die hochgetürmten Gepäckstücke, die eigene Küche, der unabhängige Haushalt, die Dienerschaft, der abgesonderte Vorrat, die beiden holländischen Kühe (die Awetis der Jüngere angeschafft hatte), all diese Ausnahmsgüter bildeten Vergünstigungen, die dem Volke mundgerecht gemacht werden mußten. Gabriel Bagradian hatte zwar verfügt, daß der größte Teil der Milch an die Kinder des Lagers verteilt werde, ebenso wie alles, was in der Küche entbehrlich sei; dennoch bedeuteten diese Zuwendungen aber lediglich Reste, die die Herrschaft übrigließ. Feinde, oder auch nur Leute, die ihm nicht wohlgesinnt waren, hätten die Reden Bagradians, in denen er die Notwendigkeit der Gemeinwirtschaft verfocht, mit der üppigen Tatsache des Dreizeltplatzes bloß in Vergleich ziehen müssen, um einen peinlichen Widerspruch zwischen Bekenntnis und Lebensführung nachzuweisen. Es konnte zwar nicht geleugnet werden, daß der Befehlshaber nicht im Zelte, sondern in der Stellung schlief, daß er das gleiche Essen bekam wie alle anderen Kämpfer, daß sein Besitztum, das er der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt hatte, einen der größten Anteile ausmachte – ebensowenig aber konnte es geleugnet werden, daß er um Juliettens willen eine große Menge von Köstlichkeiten der Gemeinschaft vorenthielt. In dieser Unstimmigkeit war die Gefahr von Konflikten gelegen. Niemand unter den Führern schien aber jetzt an Ähnliches zu denken.