»Wie man die Sache auch dreht und wendet, Herr Pastor, man kann vielleicht das Schicksal der Armenier hier und dort mildern, verändern kann man es leider nicht.«
»Mit diesem unchristlichen Standpunkt werden sich weder meine Freunde abfinden noch ich selbst.«
»Begreifen Sie doch, daß in diesem Schicksal höhere Geschichtsmächte zur Geltung kommen, die sich unserem Einfluß entziehen ...«
»Ich begreife nur, daß Enver und Talaat mit satanischer Genialität den besten Augenblick wahrgenommen haben, um die Rolle dieser höheren Geschichtsmächte zu spielen.«
Der Geheimrat lächelt geziert, als sei es nun auch an ihm, einen Zipfel seiner religiösen Anschauungen sehen zu lassen:
»Sagt nicht Nietzsche, was stürzt, soll man noch stoßen?«
Nietzsche aber ist nicht der Mann, ein Kind Gottes, wie es Johannes Lepsius ist, aus der Fassung zu bringen. Etwas unwillig über die Allgemeinheiten, in die das Gespräch zerbröckelt, meint er knapp:
»Wer weiß es denn, ob er der Stürzende oder der Stoßende ist?«
Der Geheimrat, der wieder am Schreibtisch sitzt, wirft noch einmal einen kurzen Blick auf die Wandkarte:
»Die Armenier gehen an ihrer Geographie zugrunde. Das Los der Schwächeren, das Los der verhaßten Minorität!«
»Jede Person und jede Nation kommt einmal in die Lage, die schwächere zu sein. Deshalb darf man einen Präzedenzfall der Ausrottung, ja auch nur der Schädigung nicht dulden.«
»Haben Sie sich niemals die Frage vorgelegt, Herr Doktor, ob nationale Minoritäten nicht überflüssige Beunruhigungen vorstellen und am besten zu verschwinden hätten?«
Lepsius nimmt sein Augenglas ab und putzt es angelegentlich. Seine Augen zwinkern stumpf und müde. Sein ganzer Körper bekommt durch den geschwächten Blick etwas Täppisches:
»Herr Geheimrat, sind wir Deutschen denn keine Minderheit?«
»Was wollen Sie damit sagen? Ich verstehe Sie nicht.«
»Innerhalb eines gegen Deutschland vereinigten Europas bilden wir eine verflucht gefährdete Minderheit. Es muß nur einmal schiefgehn. Und eine besonders gescheite Geographie haben wir uns auch nicht ausgesucht.«
Das Gesicht des Geheimrats ist nun nicht mehr liebenswürdig, sondern scharf und sehr blaß. Ein Schwall staubiger Mittagshitze schlägt durch das Fenster:
»Sehr richtig, Herr Pastor! Und deshalb hat jeder Deutsche die Pflicht, sich um sein eigenes Volksschicksal zu kümmern und der Blutströme zu gedenken, die, wie Sie es zu nennen belieben, die deutsche Minorität vergießt. Nur unter diesem Gesichtspunkt können wir uns mit der armenischen Frage beschäftigen.«
»Wir Christen sind abhängig von der Gnade Gottes und vom Gehorsam des Evangeliums. Ich sage Ihnen rundheraus, Herr Geheimrat, daß ich jeden andern Standpunkt verwerfe. Seit einigen Wochen werde ich mir täglich klarer darüber, daß den Kindern dieser Welt, den Politikern, die Macht entwunden werden muß, soll die Gemeinschaft des Heilands, des Corpus Christi Wirklichkeit werden auf unserer kleinen Erde ...«
»Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist.«
»Was aber ist des Cäsars außer dem abgegriffenen Groschenstück? Das sagt der Herr in seiner göttlichen Verschlagenheit nicht. Nein, nein! Die Völker sind Untertanen ihrer Artung. Und die Schmeichler, die von ihnen leben wollen, reizen liebedienerisch ihre Eitelkeit. Als wäre es schon ein besonderes Verdienst, als Hund oder Katze, als Kohlrübe oder Kartoffel geboren zu sein. Jesus Christus aber gibt uns das ewige Beispiel, wie der Gottmensch sich in menschliche Artung nur zu dem Zwecke kleidet, um sie zu überwinden. Deshalb sollten auf Erden nur die echten Diener Christi herrschen, und zwar deshalb, weil sie ihre Artung, ihre irdischen Bedingungen überwunden haben. Das ist mein politisches Glaubensbekenntnis, Herr Geheimrat.«
Der preußische Aristokrat gibt nicht die leiseste Ironie zu erkennen:
»Sie haben wie ein eingefleischter Katholik geredet, Herr Pastor.«
»Katholischer als ein Katholik! Denn die Kirche meiner Zuversicht teilt mit keiner Laienmacht die Herrschaft.«
Der Geheimrat klemmt sein Monokel wieder ins Auge, als gebe er damit zu verstehen, daß die Zeitspanne der Erörterungen nun zu Ende sei:
»Ehe wir aber nicht wieder bei der heiligen Inquisition halten, müssen wir armen Kinder der Welt die Verantwortung tragen.«
Johannes Lepsius, der vielleicht ein wenig zu weit gegangen ist, nimmt sich wieder zurück. Seine Worte klingen ruhig, fast abweisend:
»Ich will weiter zu Ihnen offen sein, Herr Geheimrat ... Bis vor einigen Tagen war ich noch hoffnungsvoll und habe geglaubt, der Herr Reichskanzler werde mich in diesem Kampf durch drastischere Mittel unterstützen als bisher. Sie haben mich nun endgültig darüber belehrt, daß unsere Regierung der Pforte gegenüber gebundene Hände hat und mit den üblichen Demarchen und Interventionen ihr Auslangen finden muß. Gut! Mich aber bindet keinerlei Staatsräson. Und auf meinen Schultern allein liegt jetzt die armenische Sache in Deutschland. Ich bin nicht gewillt, Konzessionen zu machen und zurückzuweichen. In Gemeinschaft mit meinen Freunden werde ich die Aufklärung in das Volk hinaustragen. Denn nur wenn die Menschen die ganze Wahrheit wissen, kann ich das christliche Hilfswerk auf ein breites Fundament stellen ... Ich bitte daher, mir wenigstens bei dieser Tätigkeit nicht in den Arm zu fallen.«
Der Geheimrat, der sich in das Studium seiner Armbanduhr vertieft hat, hebt erfreut den Kopf:
»Eine Offenheit ist der anderen wert, Herr Pastor ... Sie werden es mir also nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen mitteile, daß man schon lange ein Auge auf Sie hat. Ihr Aufenthalt in Konstantinopel war Gegenstand so mancher Beschwerde. Ich sage es noch einmal, Sie ahnen nicht, wie verwickelt die Dinge liegen. Es tut mir leid. Ich habe die größte Hochachtung vor Ihrer humanitären Tätigkeit. Und doch, diese Tätigkeit ist, nun, sie ist im politischen Sinne unerwünscht. Ich würde Ihnen raten, Verehrtester, sie einzuschränken und möglichst unauffällig zu gestalten.«
Die Antwort des Pastors fällt im Ton eher mürrisch als feierlich aus: »An mich ist ein Ruf ergangen. Keine Macht der Welt kann mich hindern, diesem Ruf zu folgen.«
»Sagen Sie das nicht, Herr Doktor Lepsius«, erschrickt der Geheimrat mit beinahe bestürzter Liebenswürdigkeit, »einige Mächte der Welt arbeiten schon daran, Sie gründlich zu hindern.«
Der Pastor tastet seine linke Rockseite eingehend ab. Dann erhebt er sich:
»Ich bin Ihnen äußerst dankbar, Herr Geheimrat, für Ihre Aufrichtigkeit und für Ihren Rat.«
Der hohe schlanke Herr steht mit einer Art selbstgefälliger Verlegenheit, die ihn gut kleidet, vor Lepsius:
»Es freut mich, daß wir uns so rasch verstanden haben, Herr Pastor. Sie sehen blaß aus. Es wäre für Sie am bekömmlichsten, eine Zeitlang auszuspannen und in den Tag hinein zu leben. Wohnen Sie nicht in Potsdam?«
Johannes Lepsius bedauert, den Herrn Geheimrat so lange in Anspruch genommen zu haben. Dieser aber geleitet ihn mit dem reizendsten Lächeln zur Tür:
»Aber nein, Herr Pastor, eine interessantere Stunde habe ich lange nicht erlebt.«
Unten auf der mittagsschwülen Wilhelmstraße prüft sich Johannes Lepsius, ob er sich dem Herrnworte gemäß sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange verhalten habe. Er muß aber schnell erkennen, daß er sowohl als Taube wie auch als Schlange versagt hat. Zum Glück jedoch ist er vorsichtig genug gewesen, sich schon vor längerer Zeit alle nötigen Pässe, Sichtvermerke, Reiseerlaubnisse, Geldausfuhrbewilligungen zu beschaffen. Darum hat er vorhin seine linke Brustseite so eingehend nach diesen Heiligtümern betastet. Er dreht sich scharf um, ob ihn nicht jetzt schon ein Kriminalbeamter verfolge. Sein Entschluß ist gefaßt. Der D-Zug nach Basel geht um drei Uhr vierzig. Er hat noch mehr als drei Stunden Zeit, um nach Hause zu telefonieren,