Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835543
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      »Und wenn du krank wirst, soll ich nicht krank werden?«

      »Denk doch an Howsannah und das Kind!«

      Sie ging zum Bett und legte ihre Handflächen auf Juliettens Schultern. In dieser Stellung wandte sie sich nach Gabriel um:

      »So, jetzt kann ich nicht mehr in unser Zelt zurückgehn, jetzt kann ich nicht mehr Howsannah und das Kind berühren ...«

      Er versuchte sie fortzuziehen:

      »Was wird Aram Tomasian dazu sagen? Nein, ich kann es vor ihm nicht verantworten, Iskuhi! Geh, um deines Bruders willen, Iskuhi, geh!«

      Sie beugte sich tief über das Gesicht der Bewußtlosen, die jetzt immer unruhiger wurde:

      »Warum schickst du mich fort? Wenn es geschehen soll, so ist es jetzt geschehn. Mein Bruder? Das ist mir alles nicht mehr wichtig.«

      Er trat leise und unsicher hinter sie:

      »Du hättest das nicht tun sollen, Iskuhi.«

      Über ihr Gesicht zuckte es fast wie leidenschaftlicher Spott:

      »Ich? Was bin ich? Du bist der Führer. Wenn du krank wirst, ist alles verloren.«

      Mit ihrem Taschentuch reinigte sie den Mund der Kranken:

      »Als wir aus Zeitun kamen, war Juliette so gütig, so wunderbar zu mir. Ich habe jetzt eine Pflicht zu erfüllen, so gut ich es kann. Verstehst du das nicht?«

      Er versenkte seine Lippen in ihr Haar. Sie aber umfing ihn mit aller Kraft:

      »Bald ist doch alles vorbei! Und ich will dich haben. Ich will bei dir gewesen sein!«

      Es war der erste offene Ausbruch von Iskuhis Liebe. Sie hielten einander fest, als läge eine Tote neben ihnen, die nichts mehr spürt. Doch Juliette war nicht tot. Ihr Atem röchelte. Manchmal entrang sich ein kleiner, jammernder Laut ihrer verengten und geschwollenen Kehle, als suche sie jemanden, der ihr immer wieder entweiche. Da ließ Iskuhi Gabriel los, doch wie mit weinenden Händen. Dann sprachen sie nur mehr einsilbige Sachlichkeiten, um der Bewußtlosen willen.

      Während der Nacht kam Juliette für eine Weile zu sich. Sie begann wirr zu reden und versuchte, sich aufzustemmen. Wie weit war der Weg, den sie zurückzulegen hatte. Doch gelangte sie nur bis in ihre Wohnung in der Avenue Kleber und nicht bis auf den Damlajik:

      »Suzanne ... Was ist denn los? ... Bin ich krank? ... Ich bin krank ... Ich kann nicht aufstehn ... So helfen Sie mir doch ...«

      Sie verlangte einen Dienst. Gabriel und Iskuhi halfen der Kranken, die sich noch immer in ihrem Pariser Schlafzimmer befand. Vom Schüttelfrost hin und her geworfen, lallte Juliette:

      »So ... Ich glaube, jetzt werde ich schlafen ... Es ist wieder einmal meine Angina, Suzanne ... Nichts Arges, hoffentlich ... Wenn mein Mann nach Hause kommt, wecken ...«

      Die gemurmelte Nennung des einstigen Bagradian, der in der Welt dieser Kranken ein gesichertes Leben führte, wirkte auf den wirklichen Bagradian erschütternd. Er tauchte wieder ein Tuch ins Wasser und erneuerte die Kompresse um Juliettens Hals. Dann deckte er sie mit großer Sorgfalt zu und flüsterte: »Ja, schlafe, schlaf nur, Juliette!«

      Sie sagte etwas Unverständliches. Es klang wie müder Dank und wie das kindliche Versprechen, gehorsam schlafen zu wollen. Gabriel und Iskuhi saßen schweigend, dicht aneinandergedrückt und Hand in Hand auf dem Diwan. Er aber ließ kein Auge von der Kranken. Sonderbarste Lebensverwicklung! Der Betrogene diente – sie mit einer anderen betrügend – der Betrügerin. Juliette schien nun wirklich zu schlafen.

      Die Stunde war da. Gonzague Maris hatte sich entschlossen, nicht mehr länger zu warten. Ein Ruck! Vorbei ist vorbei. Und doch, er schlüpfte nicht so leicht aus diesen seltsamsten Wochen seines Lebens, wie er sich's vorgenommen hatte. Mit Verwunderung erkannte er, daß ihn ein ausgesprochenes Leidensgefühl zurückhielt. War seine Liebe zu Juliette größer, als er wußte? War es ein Schuldbewußtsein, das seine Freiheit trübte? In den letzten Tagen hatte sich die Frau so wirr und unbegreiflich benommen und durch ihre Qual sein Mitleiden und den Wunsch, sie zu beschützen, immer wieder aufgerührt. Und dann, das Ende war so schändlich. Wenn er des gräßlichen Augenblickes gedachte, preßte er die Zähne aufeinander, und sein beherrschtes Gesicht verzerrte sich. Mußte er sich wie ein windiger Lump diesem Ende, diesem abscheulichen Abbruch beugen? Mehr als einmal hatte er sein Versteck verlassen und war bis in die Nähe des Dreizeltplatzes gekommen, um mit Gabriel Bagradian zu sprechen und um Juliette zu kämpfen. Jedesmal aber war er wieder zurückgekehrt, nicht aus Feigheit, sondern aus einem neuartig unüberwindlichen Befangenheitsgefühl: Hier gehöre ich nicht mehr her. Seit jenem Augenblick nämlich hatte sich zwischen Gonzague und der Welt des Damlajik ein unsichtbarer, aber gewaltiger Hinderniswall aufgebaut. Es war für ihn kaum mehr möglich, den Luftraum, der die armenischen Wohnstätten umlagerte, zu durchdringen. Juliette aber lebte jetzt jenseits dieses Walles. Das armenische Schicksal hatte sich stärker erwiesen als sie. Dazu kam die feinverklausulierte Warnung Apotheker Krikors, seines Hausvaters. Dieser hatte mit keinem Wort das Peinliche berührt, sondern nur vom amerikanischen Paß Gonzagues gesprochen und die Meinung kundgetan, daß jeder irdische Aufenthalt einmal zu Ende gehe und daß es das schöne Vorrecht der Jugend sei, leichten Blutes immer wieder Abschied nehmen zu können. Das Leben werde erst trübe, wenn es nur einen einzigen Abschied mehr enthalte. Maris hatte die praktische Philosophie des Alten mit gebührender Achtung entgegengenommen und doch aus einer zartsinnigen Nebenbemerkung herausgespürt, daß jede weitere Stunde auf dem Musa Dagh für ihn mit mancherlei Gefahren verbunden sei. Und dies Bewußtsein der lauernden Gefährdung wurde mit den fortschreitenden Minuten immer stärker. Der abnehmende Halbmond stand schon hoch über seinem Scheitel. Er hatte eine ganze Stunde über die verabredete Zeit gewartet. Juliette war verloren. Er ging noch einmal einige Schritte in die Richtung des Lagers. Dann kehrte er entschlossen um. Vielleicht war es besser so. Langsam und mit zögernder Gründlichkeit zog er seine Handschuhe an. Ein überlegener Beobachter hätte diese elegante Geste inmitten einer weglosen nächtlich asiatischen Bergwüstenei vielleicht als grotesk empfunden. Gonzague zog aber seine Handschuhe nur an, um sich bei der Kletterei nicht zu verletzen. Dann schnallte er sich den schmalen Lederkoffer auf den Rücken. Wie es seine Gewohnheit war, wenn er aus dem Hause ging, zog er seinen Taschenkamm hervor und brachte sein Haar in Ordnung. Das Bewußtsein, nichts vergessen zu haben, kein Stücklein seines Ichs unbemerkt zurückzulassen, kurz ein frisches und wohltuendes All-right-Gefühl erfüllte ihn trotz allem. Langsam schlenderte er zwischen Rhododendron, Myrten und wilden Magnolien in den Mond hinein, als dehne sich vor ihm nicht die Wildnis, sondern eine reizend gebahnte Promenade. Ihm fiel ein Wort ein, das er zu Juliette über sich gesprochen hatte: »Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, weil ich eine sehr schlechte Erinnerung habe.« Und wirklich, bei jedem Schritt nach Süden wurde seine Erinnerung blasser, sein Herz freier. Schon schritt er rascher aus, neugierig der Zukunft zugewandt, die durch seine Pässe und sein Naturell gesichert war. Wie Schneegrate und -felder, von unnatürlich schwarzen Schatten durchhöhlt, strahlten die kreidigen Felsen der Meerseite. Unten bellte die Brandung matt. Als der Pfad schwieriger zu werden begann, kostete Gonzagues Fuß jeden Schritt wiegend vor. Er genoß selbstherrlich das Spiel seiner Muskeln. Wie unverständlich waren die Menschen! All dieser Mord und Schmerz kam daher, daß sie nicht das teilnahmslose Licht in sich herrschen ließen, sondern das dumme unordentliche Dunkel. So einfach, so leicht überwindbar war diese schwarze und weiße Lunawelt. Sich als Nichts im Nichts fühlen, das war alles. Eine kleine schmunzelnde Sympathiewelle für Krikor von Yoghonoluk, den niemand je zitiert hat und je zitieren wird! Gonzague mußte einen nackten Felsen entlangklettern und über zwei Spalten hinwegsetzen. Schon sah er die vorspringende Nase vor sich, jenseits deren der Abstieg begann. Einen Augenblick stand er still, um zu rasten. Die unermeßliche Tiefe öffnete sich unter ihm: Ob ich nach Suedja komme, gleichgültig, ob ich abstürze, gleichgültig! Es ging ihm durch den Kopf: Zuerst fällt man hart, zuletzt fällt man weich. Wie weit war Juliette schon zurückgeblieben! Als Gonzague wiederum in Gehölz und Buschwerk einbog, fielen knapp hintereinander vier Schüsse und peitschten an ihm vorbei. Er warf sich sofort zu Boden und entsicherte seinen Revolver. Sein Herz klopfte rasend. Die Warnung! Es war eben doch nicht gleichgültig, ob er nach Suedja kam oder nicht. Die suchenden Schritte der Rächer