Während dieser erfreulichen Vorkommnisse begab sich der Kaimakam mit dem wohlmanikürten Müdir aus Salonik auf das Telegrafenamt der Stadt. Beide Herren entwarfen mit bewundernswertem politischem Feinsinn eine Depesche an Seine Exzellenz, den Wali von Aleppo. Dieser überlebensgroße Drahtbericht umfaßte zehn dichtbekritzelte Formulare oder elfhundertfünfzig Worte. Er war winkelzügig wie der Schriftsatz eines kleinen, aber ehrgeizbesessenen Rechtsanwalts und zungenfertig wie der Leitartikel einer radikalen Zeitung. Eingangs wurde die mißlungene Liquidation in den wirksamsten Farben geschildert, die schweren, doch unnötigen Verluste zahlenmäßig angeführt und die Erbeutung der ungesicherten Geschütze durch die Aufständischen als jene soldatische Ungeheuerlichkeit gebrandmarkt, die sie tatsächlich war. Dann verließ der Kaimakam diesen traurigen Gegenstand, indem er mit Resignation feststellte, daß jede Einflußnahme seinerseits auf die militärischen Stellen stets falsch gedeutet werde. Dagegen aber müsse er mit höchstem Nachdruck auf die kochende Volksseele hinweisen, die zur Stunde die fristlose Abberufung des kommandierenden Bimbaschi immer wütender fordere, und dies sogar mit den Mitteln des Straßenaufruhrs. Die vorhandene Polizei und Gendarmerie reiche aber bei weitem nicht aus, um eines Straßenaufruhrs Herr zu werden. Man müsse deshalb unverzüglich nachgeben und Seine Exzellenz möge die Abberufung und kriegsgerichtliche Bestrafung des hiesigen Kommandanten bei der zuständigen Militärbehörde erwirken. Der Kaimakam folgerte aus diesen Ereignissen weiter, daß an allem »die doppelten Kompetenzen« schuld seien, indem die syrischen Wilajets sowohl den politischen Statthaltern als auch dem Generalkommando der Vierten Armee unterstünden. Solange dieses zwiespältige Verhältnis herrsche, könne er weder die Ruhe in seiner Kasah noch auch die wunschgemäße Abwicklung der Armenierdeportation gewährleisten. Er setzte staatsjuristisch lichtvoll auseinander, daß die Austreibung der armenischen Millet ein Akt der inneren Verwaltung sei, bei dem auch die höchsten militärischen Stellen keine selbständige Rolle innehätten. Die Leistung des Militärs sei in diesem Fall durch den Begriff der »Assistenz« vollkommen umschrieben. Die Verwendung der Truppe bei der Assistenz aber hänge nach dem Wortlaut des Gesetzes einzig und allein von den Entschlüssen der zivilen Behörde ab. Daher sei die gegenwärtige Praxis ungesetzlich, da das Generalkommando nach eigener Willkür vorgehe, die Assistenz meist verweigere, gegen die Provinzregierung gehässig arbeite und sogar die Gendarmerie – einen Teil der bürgerlichen Macht also – für ihre eigenen Zwecke verwende. In Ansehung dieser gefährlichen Tatsache werde die armenische Bevölkerung zum Widerstande aufgereizt, der, sofern er sich ausbreite, unabsehbare Folgen für das ganze Reich nach sich ziehen könne. Der Kaimakam schloß diese ungewöhnliche Staatsdepesche beinahe mit einer Drohung: Er könne die Verantwortung für die Liquidation des bewaffneten armenischen Lagers auf dem Musa Dagh nur unter der Bedingung übernehmen, daß die gesamte Macht in seiner Hand vereinigt werde. Zu diesem Behufe müsse ihm militärische Assistenz in solcher Stärke und Ausrüstung zur Verfügung gestellt werden, daß eine durchgreifende und restlose Säuberung des Berges möglich sei. Es gehe auch nicht an, daß diese Aktion von einem fremden, mit den Verhältnissen unvertrauten Offizier durchgeführt werde, sondern er bitte dringend um die Zuteilung des bisher stellvertretenden Majors als Platzkommandanten von Antakje, der aber in der armenischen Unternehmung ihm völlig unterstellt bleiben müsse. Andernfalls jedoch, sollten diese billigen Vorschläge nicht annehmbar sein, wage er, der Kaimakam, es gehorsamst anzuregen, daß man die obenberichtete Schmach ohne weitere Gegenmaßnahmen hinnehme und die Insurgenten auf dem Musa Dagh ihrem Schicksal überlasse.
Der Rapport des Kaimakams bedeutete in politischer und psychologischer Beziehung ein Meisterstück. Ging auch nur ein Teil seiner Wünsche in Erfüllung, so war er der unabhängigste Landrat in Syrien. Ein gut gedrilltes Beamtenherz älterer Artung wäre vor dem manchmal anmaßenden Ton der Riesendepesche zurückgescheut. Doch gerade dieser schneidig durchgreifende Ton war genau auf das Ohr der jungtürkischen Machthaber von heute abgestimmt. Sie beteten den Westen an und hatten daher abergläubische Verehrung für Worte wie »Initiative« und »Energie«, mochten sich diese auch aufbegehrend äußern.
Gleichzeitig klitterte der vernichtete Bimbaschi, der seine rosigen Wangen wohl für immer verloren hatte, eine lange Depesche an seinen vorgesetzten Etappengeneral zusammen. Sie erging sich in weitschweifigen Anklagen gegen den Kaimakam, der ihn zu dem mißglückten Unternehmen gezwungen habe, ohne ihm Zeit zur hinreichenden Vorbereitung zu lassen. Der Ton des Bimbaschi war wehleidig, feierlich und kleinlaut, demnach ganz und gar verfehlt. Der Unglückliche wurde noch innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden abberufen und vor Gericht gefordert. Er verschwand heimlich bei Nacht und Nebel von der Stätte seiner langjährig bequemen Wirksamkeit, das unschuldigste Opfer des armenischen Kriegsglücks. Seine Exzellenz aber, der Wali von Aleppo, fand die Formulierungen des Kaimakams von Antiochia so bedeutsam, daß er sie mit eigenen bekräftigenden Zusätzen an den Herrn Minister des Innern weiterdepeschieren ließ. Der Untergebene hatte mit feinen Fingerspitzen eine brennende Wunde seines Vorgesetzten berührt. Seitdem nämlich der große Dschemal Pascha, mit der unbeschränkten Macht eines römischen Prokonsuls ausgerüstet, in Syrien kommandierte, waren sämtliche Walis und Mutessarifs zu Schattenkönigen zusammengeschrumpft. Dschemal Pascha behandelte diese Großmächtigen etwa wie Intendanten seines Armeenachschubs. Sie bekamen von ihm strenge Befehle, dort und dorthin soundso viel tausend Oka Weizen zu befördern oder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt diese und jene Straße in tadellosen Stand zu setzen. Der Feldherr schien die ganze Zivilbevölkerung für eine lästige Schmarotzerherde zu halten und die Zivilregierung für ein gänzlich überflüssiges Übel. Seine Exzellenz von Aleppo nahm daher die Gelegenheit nicht unerfreut wahr, dem eisernen Pascha eins aufs Zeug zu flicken und die Herrschaften in Stambul von dem kläglichen Mißerfolg des überheblichen Militärs in Kenntnis zu setzen. Talaat Bey las das Meisterwerk des Kaimakams von Antiochia seinerseits mit gemischten Gefühlen. Er hatte die Aufgabe, den inneren Dienst gegen militärische Vordringlichkeiten in Schutz zu nehmen. Auch bedeutete für ihn die Armenierverschickung eine weit erhabenere Tatsache als der langweilige Ehrgeiz unbefriedigter Eisenfresser. Er fuhr, wie es seine Gewohnheit war, mit der gewaltigen Tatze mehrmals an der weißen Weste hinab. Dann aber fügten die flinken Telegrafistenfinger an dieser gewaltigen Tatze die Depeschenblätter mit einer Klammer zusammen. Er legte einen Zettel mit den Worten bei: »Bitte dringend um positive Erledigung.« Der Akt wanderte unverzüglich auf den Schreibtisch des Kriegsministers. Enver Pascha pflegte niemals eine Bitte Talaats abzuschlagen. Als die Herren einander am Abend beim Endjumen, dem engeren Ministerrat, begegneten, trat Enver auf seinen Freund zu. Der junge Kriegsgott lächelte mit seinen langen Mädchenwimpern befangen: »Ich habe wegen des Musa Dagh an Dschemal energisch telegrafiert ...« Ohne Talaats Dank abzuwarten, fügte er mit zierlicher Spottgrimasse hinzu: »Ihr könnt mir alle dankbar sein, daß ich diesen verrückten Menschen nach Syrien abgeschoben und kaltgestellt habe.«
Vor dem Jaffator in Jerusalem stand ein arabisches Hotel, dessen Fenster auf die Davidzitadelle mit ihrem hochragenden Minarett hinausgingen. In diesem Hotel hatte Armeegeneral Dschemal Pascha vorübergehend sein Hauptquartier aufgeschlagen, als die Depeschen Envers, des Wali von Aleppo und anderer Funktionäre einlangten, die ihn um eine rasche Bereinigung der armenischen Schmach ersuchten. (In jenen Tagen pflegten die jungtürkischen Machthaber einander ganze Bücher zu telegrafieren. Es war nicht allein die Dringlichkeit, sondern eine barbarische Freude an dem vermittelnden Strom, die sie zu solchem Wortreichtum verführte.) Dschemal Pascha saß allein in seinem Zimmer. Weder Ali Fuad Bey noch auch der Deutsche von Frankenstein, seine beiden Stabschefs, waren anwesend. Dschemal Pascha konnte sich deshalb gehenlassen. Nur Osman, der Oberste seiner Leibwache, stand an der Tür, ein reckenhafter Bergbewohner, der wie eine ausgestopfte und behängte Figur im Waffenmuseum wirkte. Mit seiner Leibwache verfolgte Dschemal einen doppelten Zweck. Er frönte mittels ihrer romantischen Ausstattung der Prachtsucht des Asiaten, die in dem farblosen Kriegsbetrieb der Gegenwart sonst nicht auf ihre Kosten kam. Zugleich aber beschwichtigte er durch sie eine Seelenregung, die alle Diktatoren seit eh und je vor ihren weniger erfolgreichen Mitmenschen auszeichnet, die Attentatsfurcht. Osman durfte nicht von seiner Seite weichen, hauptsächlich dann nicht, wenn irgendein Herr aus Stambul vorsprach. Dschemal hielt es nämlich durchaus nicht für ausgeschlossen, daß seine lieben Brüder Enver und Talaat ihm einen tüchtigen Agenten des Todes mit guten Empfehlungen zu senden willens waren.