Nicht mehr als drei Tage und drei Nächte waren hingegangen, da meldeten die Beobachter allerlei unverständliche Bewegungen in den Dörfern.
Gabriel Bagradian bezog sofort einen Späherposten. Und wirklich, im Ausschnitt des Zeißglases zeigte sich lebhaftes Gewimmel in scharf unterschiedenen Gestalten. In der Orontesebene, auf der Straße zwischen den Dörfern, auf den Karrenwegen und Saumpfaden ringsum schlichen Züge von Ochsenkarren dahin. In den Dörfern selbst sah man größere Menschenhaufen mit Fez und Turban in eiligem Hin und Her. Gabriel tastete jedes Fleckchen mit dem Glas ab, doch er bemerkte nicht einen einzigen Soldaten und nur einige wenige Saptiehs. Dagegen bemerkte er, daß diesmal nicht nur der altbekannte Pöbel von Antakje und Umgebung in die verlassenen Ortschaften eingebrochen war; der Zustrom des heutigen Tages machte einen gewichtigeren Eindruck und schien auf ein planvolles Ziel hinzusteuern. Auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk herrschte hastiges Treiben. Turbanträger erkletterten die Feuerleiter der Kirche und bewegten sich im leeren Glockenturm seitlich der großen Kuppel. Langgedehnte Töne eines ganz dünnen Stimmchens wurden hörbar, nein, ahnbar, die in die vier Weltrichtungen verhallten. Vom Hause Christi schickte der Gebetrufer des Propheten die klagende Lockmelodie aus, die jeden Moslem erzittern läßt und die nun aus allen Flecken, Weilern, Hütten des öden Landes die Gläubigen in die Dörfer des Musa Dagh zu verführen schien. Das Schicksal der Kirche »Zu den wachsenden Engelmächten«, die Awetis der Alte errichtet hatte, war besiegelt. Und im Hirne des Enkels zuckte der heiße Wunsch auf, den stolzen Zerstörungsversuch mit einigen Haubitzgranaten zu wagen. Doch er verwarf dieses Gelüste, kaum daß es geboren war. Sein alter Grundsatz, immer nur verteidigen, nie angreifen, durfte von ihm am allerwenigsten durchbrochen werden. Am gefährlichsten wirkte der Berg auf die Feinde dort unten gewiß, wenn er tot und geheimnisvoll dalag. Jede Herausforderung mußte den Abwehrkampf schwächen, weil sie den Türken, als dem Staatsvolk, ein moralisches Recht der Strafe verschaffte.
Angesichts des unbekannten Gewimmels im Tale fragte sich Bagradian, wie viele Kämpfe man noch werde durchhalten können. Die Munition blieb trotz der zweimaligen Siegesbeute und Nurhans Patronenmanufaktur äußerst begrenzt. Herzbeklemmend war der Umstand, daß der geringste Mißerfolg, die kleinste Schlappe unwiderruflich zum Untergang führen mußte. Für das Volk des Damlajik gab es keine Zwischenstufen, sondern nur Siege oder den Tod. Der Verlust eines einzigen Grabens schon bedeutete das Ende. Gabriel Bagradian überlegte wie schon tausendmal, daß nicht nur ein solcher Verlust das Ende bedeute, sondern alles, das Gute und Schlimme, wie immer es sich auch gestalte. Seine kriegerische Kunst hatte nur dieses Ende hinauszuzögern, so lange wie möglich. Zu diesem Zwecke durfte das Kapital der panischen Angst, die der Berg den Türken nach ihrer doppelten Niederlage offensichtlich einflößte, nicht unnütz verausgabt werden. Die neue Bevölkerung des Tals wuchs von Minute zu Minute. Eine militärische Unternehmung ist sicher nicht geplant, stellte Bagradian nach längerer Zeit fest. Die Absicht dieser Neusiedlung aber verstand er noch nicht ganz. Vielleicht war es die wirkliche, vielleicht nur die demonstrative Landnahme eines christlichen Bezirkes durch den Islam. Vor der Kirchentür von Yoghonoluk unterschied er eine kleine Gruppe von europäisch gekleideten Herren. Der Müdir mit seinen Unterbeamten, meinte er und freute sich, daß kein Offizier dabei war, um die Kriegslage zu begutachten. Dennoch gab Gabriel Bagradian den Befehl, die Bereitschaft in den Stellungen aufs äußerste zu verschärfen. Er ließ ferner alle Beobachterstände mit verdoppelten Posten besetzen und legte Kundschaftergruppen an alle Zugangspunkte des Damlajik bis zu den Obst- und Weingärten hinab, damit sie einen etwaigen Überrumpelungsversuch der Türken bei Nacht unmöglich machten.
Gabriel hatte richtig geschätzt. Vor der Kirche von Yoghonoluk stand der sommersprossige Müdir. Doch es war noch ein Ranghöherer erschienen, der leberkranke Kaimakam höchstselbst, um nach dem Rechten zu sehen. Das hatte seinen guten Grund. In Antiochia nämlich war nach dem zweiten, noch traurigeren und schmählicheren Rückzug der regulären Streitmacht einiges geschehen, was bedeutsame Folgen nach sich zog.
Zwischen dem Kaimakam und dem armen Bimbaschi mit den Kinderwangen war sofort der Kampf auf Leben und Tod ausgebrochen. Der schlichte Kasernenvater einer vergangenen Zeit zeigte sich der Ittihad-Feinheit des neuen Stils in keiner Weise gewachsen. Erst jetzt ahnte er, warum sein scharfer Todfeind und Stellvertreter, der Jüsbaschi, in diesem Zeitpunkt gerade Urlaub genommen hatte. Indem er ihm diesen Urlaub gewährte, war er dem Stellvertreter auf den Leim gegangen. Nun würde der Major tatsächlich in Bälde seine Stelle vertreten. Es begann damit, daß der Kaimakam den Volkszorn gegen den Bimbaschi schlau zu entfesseln wußte. In Antiochia gab es nur ein einziges Lazarett, das der Zivilbehörde unterstand. Die kranken Soldaten verblieben bei leichteren Fällen in der Kaserne. War aber ärztliche Behandlung und Pflege erforderlich, so mußte das Militärkommando beim Kaimakamlik um Spitalaufnahme der Schwererkrankten bittlich werden. Diese bürokratisch vertrackte Umständlichkeit machte sich der Kaimakam heimtückisch zunutze. Wenn der Oberst auf jeden Fall erledigt war, so hätte sich die Sache mit Berichten und Untersuchungen doch noch viele Wochen lang hinziehen können, ehe seine Absetzung erfolgte. Man wäre keinen Schritt weitergekommen. Der Kaimakam aber brauchte für seine Politik in der Kasah zuverlässige Ittihadleute und keine trägen Knasterbärte aus Abdul Hamids Zeiten. Der Major und er hatten die Ereignisse ziemlich genau vorausgesehen und ihre Partie miteinander abgekartet. Wenige Stunden, bevor der Bimbaschi als gebeugter Herold seiner eigenen Niederlage nach Antakje zurückkehrte, trafen in tiefer Nacht die langen Karrenzüge mit den Toten und Verwundeten des Steinschlages und des Kampfes ein. In Hükümet brannte kein Licht, obwohl man dort alles schon wußte. Als die Verwundeten ans Tor des Krankenhauses gelangten, verweigerte ihnen der Verwalter unerbittlich den Einlaß. Ohne den Revers des Kaimakams dürfe auf ausdrücklichen Befehl niemand aufgenommen werden. Da half kein Zetern und Fluchen. Der Arzt legte unter freiem Nachthimmel bei Mond- und Petroleumbeleuchtung die notwendigsten Verbände an. Auch er hatte weder den Platz noch auch die Erlaubnis, den gewaltigen Zuwachs von zweihundert Mann in seiner engen elenden Spitalsbaracke unterzubringen. Verzweifelt entsandte er einen seiner Gehilfen zum Kaimakam, um Weisungen einzuholen. Nach endloser Zeit kam der Bote unverrichteterdinge zurück. Der Kaimakam schlafe so abgründig tief, daß es nicht gelungen sei, ihn zu wecken. Daraufhin entschloß man sich, die stöhnenden und weinenden Verwundeten in die Kaserne zu führen, damit sie wenigstens ein Dach über dem Kopfe hätten. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und der Tag rasch fortgeschritten. Der Eindruck, den die blutigen Karren bei der Bevölkerung von Antiochia hervorriefen, läßt sich kaum schildern. Als um dieselbe Stunde der vom Schicksal so arg gerupfte Bimbaschi mit seinem Stab über die Orontesbrücke in die Stadt einritt, wurde er mit Steinen empfangen und konnte sich nur auf unrühmlichen Umwegen in seine Kanzlei retten. Jetzt erst, da das Gedränge des Markttages anhob, sandte der beneidenswerte Morgenschläfer von Kaimakam den notwendigen Erlaubnisschein und ließ die langen Kolonnen der Unglücklichen in das Hospital überführen, jedoch mit dem nachdrücklichen Geheiß, der Weg müsse über den großen Bazar genommen werden. Der neuerliche Anblick der gelben Leidensgesichter und blutbesudelten Verbände erweckte einen stattlichen Aufruhr. Die empörte Menge zog vor die Kaserne und schlug dem armen Bimbaschi die Fensterscheiben ein, was hierzulande die Vernichtung einer Kostbarkeit bedeutete. Doch nicht genug damit! Die Reste der bewaffneten Macht waren so niedergedonnert und kleinlaut, daß sie vor dem Pöbel die Kasernentore ängstlich verriegelten wie erschrockene Spießbürger. In jeder Menschenmenge steckt ein leichtentzündlicher Urhaß gegen die Träger der Staatsordnung. Der Pöbel empfand die Totenstille hinter den Kasernenmauern als seinen eigenen Triumph und eröffnete ein neues Bombardement. Die Offiziere flehten den Bimbaschi an, er möge ihnen den Befehl geben, den Platz durch die Wachmannschaft mit gefälltem Bajonett säubern zu dürfen. Der alte Mann lag aber auf einem Diwan und hörte auf keinen Rat. Jammernd entrang es sich immer wieder seinen Lippen: »Ich bin nicht schuld.