»Euer Vater warf das Umhangstück weg, aber mein Vater sah etwas darin und hob es auf. Lange Jahre behielt er es als Erinnerung daran, wie es um die Sittlichkeit eines Mannes beschaffen sein sollte.« Jerobeam legte eine Hand auf sein Herz. »Nun gehört es Euch.«
Ein kleines Lächeln zeigte sich auf Salomons Lippen. Ohne seinen Blick von dem forschen Mann zu nehmen, reichte er Zadok den Stoff. »Was willst du, Jerobeam von Ephraim?«
»Arbeit, mein Gebieter. Ich besitze einen kräftigen Körper und einen starken Geist. Bevor er starb, vor einem Jahr, befahl mein Vater mir, zu Fuß von Zareda nach Jerusalem zu gehen, um zu helfen, das Haus des Herrn zu errichten.« Er deutete auf die Tempelkonstruktion. »Ihr müsst mich nicht bezahlen. Die Ehre wäre Lohn genug.«
»Es ist eine lange Reise von Zareda«, sagte Salomon. »Und es wäre eine lange Reise zurück.«
»Ich bin darauf vorbereitet, sie anzutreten, wenn Ihr mich fortschickt. Aber ich bitte Euch, es nicht zu tun.«
Der König wandte sich seinem Vorarbeiter zu. »Itai. Benötigst du Steinträger?«
»Ja, mein Gebieter.«
»Zeige Jerobeam, was er tun muss.«
Jerobeam ließ sich auf ein Knie nieder und neigte den Kopf. »Habt Dank, mein Gebieter. Ich werde Euch nicht enttäuschen.«
»Es ist keine leichte Aufgabe. Du wirst hart arbeiten.« Salomon schwang ein Ende seines Umhangs über seine Schulter. »So beweist sich ein Mann.« Er ging davon.
Kaum in der Lage, mit dem hurtigen jungen König Schritt zu halten, folgte Zadok ihm. Er dachte über Salomons Gerechtigkeitssinn nach, seinen Hang dazu, den Menschen sein Vertrauen und seine Großzügigkeit im Voraus zu schenken, damit sie diese anschließend verdienen oder sie verlieren konnten. Jenen, die sich als würdig erwiesen, erging es gut; für die anderen gab es keine Nachsicht. Diese aus Menschlichkeit geborene Anpassungsfähigkeit, im Zusammenspiel mit unerschütterlicher Stärke, wenn die Situation es erforderte, hatte ihm die Gunst aller eingebracht, von Königen bis zu Bettlern.
Über seine Schulter hinweg sagte Salomon: »Wir müssen uns beeilen, Zadok. Heute Nacht tafeln wir zu Ehren von König Hiram von Tyros. Seine Karawane wird jeden Moment eintreffen.«
»Ja, mein Gebieter.« Zadoks Stimme war schwerfällig.
Der König blieb stehen und wartete, bis der alte Mann zu ihm aufgeschlossen hatte. Es schien beinahe so, als hätte er das Alter seines Priesters vergessen.
Zadok blieb vor ihm stehen und stützte sich mit beiden Händen auf seinen Gehstock.
Salomon legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich will, dass Ihr und Benaja heute zu meiner Rechten sitzt. Und sorgt dafür, dass meine Mutter und der Prophet Nathan Ehrengäste sind.«
Der Priester nickte.
»Hiram war Israel immer ein guter Freund – erst meinem Vater und nun mir. Das Festmahl heute Abend ist von äußerster Wichtigkeit. Wir müssen unseren Bund mit Tyros vertiefen.« Er kniff die Augen zusammen und sah zur Stadt. »Jerusalem wird die großartigste Stadt im Osten sein. Es wird von den Gläubigen verehrt und von seinen Feinden gefürchtet werden. Das ist der Wille des Herrn; ich führe ihn nur aus.« Er wandte sich wieder Zadok zu. »Heute Abend werden viele Verhandlungen stattfinden. Ich werde Eure Erfahrung und Weisheit brauchen, Zadok, alter Freund. Ich möchte, dass Ihr mir ins Ohr flüstert.«
»Das habe ich immer und werde ich immer, mein Gebieter.« Es wärmte ihn, diese Worte auszusprechen. Er war seinem König bedingungslos treu ergeben.
Salomon drückte Zadoks Schulter mit fester Hand und sagte nichts mehr. Er drehte sich um und ging auf den Palast zu.
Zadok richtete sich auf und machte sich für den langen Weg nach unten bereit. Er überdachte die Worte des Königs: Wir müssen unseren Bund mit Tyros vertiefen. Fremde Länder und deren Herrscher spielten eine wesentliche Rolle für Salomons Regentschaft und waren für die Erweiterung seines Königreichs entscheidend. Zadok verspürte einen leichten Stich in der Magengrube. Jahwes Gesetz warnte davor, sich mit Nichthebräern zusammenzuschließen, denn sie könnten dafür sorgen, dass sich die Herzen der Kinder Israels fremden Göttern öffneten.
Salomon wandelte auf einem schmalen Grat.
Kapitel 5
Im Bankettsaal war eine Zederntafel aufgestellt, die sich von einem Ende der Halle bis zum anderen erstreckte. Zu jedem Gedeck gehörte eine glasierte Keramikschüssel mit einer Prägung des Löwenemblems, das zum Kennzeichen des Königs geworden war. Tonbecher waren neben den Schüsseln aufgestellt und warteten darauf, mit Wein gefüllt zu werden. In der Mitte des Tisches standen Gefäße voller Früchte und auf Tellern mit Standringen stapelten sich pralle Feigen.
An der Tafel standen lange Bänke und mindestens zwanzig Stühle und alle Plätze waren von Mitgliedern vom Hofe Salomons besetzt: Befehlshaber und Soldaten der Armee, mächtige Kriegshelden, Statthalter, Richter, Brüder und Verwandte, geehrte Untergebene, Propheten. Der König und sein Ehrengast waren noch nicht da.
Gespräche, dem Summen von Bienen gleich, füllten jeden Winkel des Raums. Zadok nahm seinen Platz an der Mitte der Tafel ein, neben dem hochlehnigen Stuhl aus geschnitztem Holz, der für Salomon reserviert war. Er nickte Benaja zu, dem kräftigen Armeeführer, dessen Ausstrahlung so ruhig und friedlich war, dass die Vorstellung von der tödlichen Natur seines Schwerts schwerfiel.
Kaum hatte sich Zadok auf seinem Stuhl niedergelassen, erschien ein Diener im Eingang und blies in eine längliche Messingtrompete. Nach fünf kurzen und einem langen Stoß waren alle aufgestanden. Im Raum war es so reglos und still wie in einem Grab.
»Ihre Hoheiten, König Salomon von Israel und König Hiram von Tyros«, verkündete der Diener.
Salomon betrat den Raum zuerst. Er trug ein langes Gewand von der Farbe des Mittelmeers zur Sommerzeit, das in der Taille von einem aus Metall und Leder geflochtenen Gürtel gehalten wurde. Ein violettfarbener Umhang mit fransenverziertem, elfenbeinfarbenem Futter war vornehm um seinen Körper geschwungen und wurde an einer Schulter von einer runden, edelsteinverzierten Spange gesichert. Die zwölf Spitzen seiner goldenen Krone erstreckten sich von seinem Kopf wie die Strahlen der Sonne.
Gleichzeitig legten alle Bankettgäste die rechte Hand ans Herz und verneigten sich vor ihrem König.
Salomon drehte sich zum Eingang und streckte eine Hand zur Begrüßung seines Gastes aus. Hiram betrat den Raum und die beiden Könige verneigten sich voreinander. Hirams Gewand war exotisch, außergewöhnlich und sicher vom ausgiebigen Handel beeinflusst, den sein Staat mit Ägypten und den Ländern im Osten trieb. Er trug eine Brokatrobe aus tyrischer Purpurseide mit goldenen Stickereien an Saum, Halsausschnitt und Trompetenärmeln. Sein juwelenbesetzter, goldener Kopfschmuck verlängerte seinen Kopf um eine Spanne und wog seinen Mangel an Körpergröße auf. Er war prächtig in seinem Glanz, obwohl er älter geworden war, seit Zadok ihn während Davids Regierungszeit zum letzten Mal gesehen hatte: Jetzt sah sein voller, schwarzer Bart aus, als wäre er mit Mehl bestäubt worden.
Die beiden Männer schritten an Salomons niederknienden Untertanen vorbei zu ihrem Platz an der Tafel. Salomon setzte sich links neben Zadok und hieß alle sich setzen. Diener mit Platten voller gegrilltem Fleisch und Schläuchen voller Wein betraten den Saal durch einen Nebeneingang.
Nachdem der Wein eingeschenkt worden war, hob Salomon seinen Becher. »Heute tafeln wir zu Ehren Hirams, des geachteten Königs von Tyros. Esst und trinkt nach Herzenslust, Freunde. Preiset den Herrn für unsere Fülle.«
Er trank geräuschvoll und wandte sich an Hiram. »Wie war Eure Reise, alter Freund?«
»Leider wird sie mit jedem vergehenden Jahr länger.« Er lachte herzlich. »Aber es war es wert, sie auf mich zu nehmen, um selbst zu sehen, was der Sohn des großen David mit seinem Königreich erreicht