Zadok ließ sich mit einiger Mühe neben dem König nieder. Er sagte nichts.
Salomon sprach mit sanfter, gleichmäßiger Stimme. »Während ich hier saß und meine Entscheidung abwog, kam der Schlaf über meine Augen und ich lehnte mich gegen diesen alten Baumstumpf. In meinen Träumen sah ich ein helles Licht und hörte eine donnernde Stimme sagen: Was wünschst du dir, Salomon? Aus Angst, geblendet zu werden, sah ich weg. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und die Stimme fuhr fort: Dein Vater, David, war mein treuer Diener. Ich tue dies um seinetwillen. Nun wünsche, was du begehrst, und ich werde es erfüllen.
Da erkannte ich, dass es die Stimme des Herrn war, und ich warf mich auf die Erde und lag mit dem Gesicht zu Boden vor ihm. Und ich sagte: Oh Herr, geliebter Gott Israels, ich bin nur ein Kind. Wie kann ich über Dein Volk richten, das Du auserwählt hast, wenn ich so wenig von der Welt verstehe? Wenn ich um Eines bitte, oh Herr, dann ist es ein kluges Herz, um den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen, damit ich Dein Volk mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen kann, aber auch mit strenger Hand handeln gegen jene, die gegen Dich sündigen.
Und der Herr sagte: Bittest du nicht um Ehre und Überfluss und ein langes Leben? Und ich antwortete: Was nützen diese Dinge, wenn keine Wahrhaftigkeit im Herzen wohnt? Dann schwand das Licht und an seine Stelle trat eine fürchterliche Dunkelheit und ich dachte, ich hätte den Herrn verärgert.« Er drehte sich Zadok zu.
»Fürchtet die Dunkelheit nicht, Salomon«, sagte der Priester. »Das Göttliche nimmt viele Formen an. Allen Dingen wohnt Zweischneidigkeit inne.«
Der junge König nickte. »Das weiß ich jetzt, denn der Herr sagte: Du sollst bekommen, wonach du fragtest, und mehr dazu. Siehe, ich schenke dir Weisheit, wie sie nie zuvor im Herzen eines Sterblichen gewohnt hat. Und wenngleich du es nicht verlangtest, so sollst du unermesslichen Reichtum erhalten, Erfolg über deine Feinde und Frieden in deinem Königreich bis ans Ende deiner Zeit. Du sollst dich abheben von allen, die vor dir kamen, und allen, die dir nachfolgen werden.«
»Dieses Schicksal steht geschrieben«, sagte Zadok. »Der Herr hat Euch auserwählt. Erinnert Ihr Euch daran, was Euer Vater sagte, bevor er starb?«
Eine steife Brise fegte über den Berggipfel und zerzauste Salomons schwarze Locken. Er schlang seinen Umhang enger um sich. »Er sagte: Mein Sohn, ich beschreite den Weg alles Irdischen. Die Zeit ist gekommen, in der Ihr stark sein und unser Volk führen müsst. Vor allen Dingen müsst Ihr Euch an die Gebräuche des Herrn halten, wie sie in Moses Geboten geschrieben stehen. Wenn Ihr Euch an die Vorschriften des Herrn haltet und sein Urteil fürchtet, werdet Ihr vor Feinden beschützt werden und unser Land Israel wird gedeihen. Hört das Versprechen des Herrn an mich: Wenn deine Kinder und deren Kinder auf dem rechtschaffenen Pfad wandeln und vor mich treten mit reinem Geist und Herzen, so wird dein Königreich für immer bestehen. Dies ist Euer Erbe, Salomon; wendet Euch nicht davon ab.«
Zadok hatte neben König David gestanden, als dieser zum letzten Mal mit seinem Sohn gesprochen hatte. Es freute ihn, dass Salomon die Worte ernst genommen hatte, denn er würde ihr Gewicht zeitlebens tragen müssen. »Der Herr beschenkt jene, die er begünstigt, großzügig. Aber eine solche Gunst kommt nicht ohne Preis. Ihr müsst Jahwe an erste Stelle setzen, vor Eure irdischen Wünsche. Hört auf den Rat dieses alten Mannes: Weicht nicht vom Weg ab, oder Euch wird alles genommen.«
Still sah Salomon zum fernen Horizont. Sein Ausdruck war strahlend, doch eine vage Traurigkeit weilte in seinem Blick.
Zadok wusste, was er dachte. »Was geschieht mit Adonija, mein Gebieter? Habt Ihr über sein Schicksal nachgedacht?«
»Das habe ich«, sagte er leise. »Indem er Abisag heiraten will, die aus allen jungen Frauen des Landes für die heilige Pflicht ausgewählt wurde, sich um den König von Israel zu kümmern, sendet mein Bruder mir eine eindeutige Nachricht. Obwohl er weiß, dass sie rein bleiben muss, um die ihr auferlegte, wichtige Aufgabe ehrenhaft zu erfüllen, verlangt er, ihre Jungfräulichkeit zu beflecken. Das kann ich nicht dulden. Ich schickte Nachricht an Benaja, den Heerführer, dass Adonija noch heute sterben muss.«
In Salomons Stimme schwang keinerlei Unsicherheit. Zadok bewunderte seine Entschlossenheit. Es konnte nicht leicht gewesen sein, den Tod eines Mannes anzuordnen, der sein Blut teilte. »Euer Bruder hatte die Möglichkeit, zu leben. Trotz seiner Sünden gabt Ihr ihm seine Freiheit; er musste lediglich dem Pfad der Tugend folgen.«
»Adonija wählte sein eigenes Schicksal.« Salomon sprang auf und hielt dem alten Mann die Hand hin. »Kommt, Zadok. Wir wollen das Unausweichliche nicht hinauszögern.«
Während die Sonne den bewölkten Himmel über Jerusalem mit Schattierungen von Kupfer und Perlen bemalte, stiegen Salomon und Zadok von der Anhöhe hinunter. Bis sie die Stadt erreicht hatten, war der Tag geschwunden – und mit ihm die Unerfahrenheit eines jungen Mannes.
Von diesem Moment an blickte Salomon nie mehr zurück, sondern konzentrierte sich auf seine auferlegte Aufgabe. Jetzt, fünf Jahre später, standen sie vor der Steinhülle, die zum Tempel des Herrn und zur Erfüllung eines Versprechens werden würde.
»Mein Gebieter.«
Salomon drehte sich um.
Mit geneigtem Kopf und einer Hand auf dem Herzen stand der Aufseher des Tempelbauvorhabens einige Schritte hinter dem König.
»Worum geht es, Itai?«
»Mein Gebieter, ein junger Mann wünscht Euch zu sehen. Er kam zu Fuß aus dem Bergland Ephraim, um nach Arbeit zu fragen.«
»Solche Angelegenheiten musst du mir nicht vortragen, Itai. Es obliegt dir, die Arbeiter zu beurteilen und einzustellen.« Salomon wandte sich zum Gehen.
»Mein Gebieter, er besteht darauf. Er sagt, sein Vater hätte im Dienst Eures Vaters gestanden.«
Der König wirkte ungehalten. »Viele Männer widmeten König David ihr Leben. Das lässt mich nicht in ihrer Schuld stehen.«
»Er brachte Euch dies.« Itai streckte eine Hand aus. Darin lag ein Dreieck verblichener, tiefblauer Wolle mit ausgefransten Rändern.
Salomon runzelte die Stirn, als er das Stoffstück sah. Er nahm es aus Itais Hand und drehte die Wolle zwischen seinen Fingern hin und her. »Bring ihn zu mir.«
Der Aufseher verneigte sich und eilte davon.
Salomon studierte die Wolle, indem er sie umdrehte und gegen das Licht hielt.
Itai kehrte mit einem Mann zurück, der aussah, als sei er ungefähr in Salomons Alter. Er trug die knielange Tunika eines einfachen Mannes und einen eng sitzenden, weiß und blau geflochtenen Turban auf dem Kopf. Die groben Kanten seines Gesichts wirkten übertrieben: Seine Nase war gerade und spitz wie der Meißel der Steinmetze; seine Brauen standen hervor; seine Wangen waren unter vorstehenden Knochen hohl. Er war von dünner Statur, wirkte aber nicht schwach. Zadok schrieb das weniger seiner Konstitution zu als dem raubtierartigen Blick in seinen Augen.
»Das ist er, mein Gebieter«, sagte Itai. »Er nennt sich Jerobeam, Sohn von Nebat, dem Ephraimiter.«
Jerobeam kniete vor dem König nieder und verneigte sich so tief, dass seine Stirn die staubige Erde berührte.
»Erhebe dich, Jerobeam.« Salomons Stimme dröhnte über den Berg.
Er tat wie geheißen und stand aufrecht, die Augen auf den König gerichtet.
Salomon hielt den Stoff in die Höhe. »Was bedeutet das?«
»Mein Herr König, es ist ein Stück des Umhangs von König Saul, der Euren Vater jagte. Es wurde vom Schwert Davids in der Höhle bei En Gedi abgetrennt.«
»Wie kam es in deinen Besitz?«
»Mein Vater war mit David in der Höhle. Er war einer der Männer, die ihm während seiner Rebellenjahre folgten und ihn zum König geweiht sehen wollten. In En Gedi fiel Eurem Vater der Feind direkt in die Hände, aber er entschied sich, ihn nicht zu töten. Stattdessen trennte er eine Ecke von Sauls Umhang mit einem Schwert ab, das genauso