»Und Dr. Hulzen denkt, dass ich nicht nur verrückt bin, sondern auch noch taub!« Der Mann schnalzte und schüttelte den Kopf. »Es ist eine Schande!« Er umklammerte das Gitter mit grobknochigen Händen und drückte sein Gesicht dagegen. Er hatte ein breites Gesicht mit einem kantigen Unterkiefer und blassblaue Augen, in denen solch Fröhlichkeit von solcher Reinheit glänzte, dass sie niemand für das Mondlicht der Tollheit hätte halten mögen. Seine Haare waren strohfarben, in der Mitte gescheitelt und an den Schläfen grau. Sein buschiger Schnauzbart war mehr grau als strohblond. Er wirkte wie ein großer Mann: Sein Kopf reichte fast bis an die Oberkante des Fensters und seine Brust wirkte in der grauen Hospitaluniform wie eine massive Tonne. Seine fleischigen Lippen waren nass von Spucke. »Ich wiederhole mein Angebot, Euch zu rasieren, Dr. Ramsendell. Ich poliere Euch den Bart weg. Gebe mir an Eurem Kinn und Hals auch besondere Mühe, hm?« Er fing an zu lachen, ein froschartiges Geräusch, das aus der Tiefe seines Rumpfes kam, und plötzlich glitzerte es in seinen Augen rot auf. Für einen kurzen Moment hatte Matthew das Gefühl, in das Gesicht des Teufels höchstpersönlich zu sehen. Dann erlosch das Glitzern wie ein Feuer unter einer Falltür und die Stimme des Mannes, jetzt wieder weich wie die eines Verkäufers, angelte nach ihm. »Kommt näher, Dandy. Lasst uns mal einen Blick auf Eure Kehle werfen.«
»Mr. Corbett?« Ramsendell stellte sich vor Matthew und sah in sein Gesicht, als wollte er ihn vor einem bösen Fluch beschützen. »Wir sollten jetzt wirklich weitergehen.«
»Ja«, stimmte Matthew ihm zu. Er spürte Schweiß an seinen Schläfen. »Gut.«
»Ich werde mich an Euch erinnern!«, rief der Mann, als sein Publikum entschwand. »Oh, ich werde mich an Euch alle erinnern!«
»Wer, zur Hölle, war das?«, fragte Greathouse, warf einen Blick zurück und traute sich dann nicht, noch einmal hinzuschauen, denn die großen Hände schoben sich die Eisenstangen hoch und runter, als suchten sie nach einer Schwachstelle, die sie zerbrechen konnten.
»Das«, antwortete Ramsendell, und zum ersten Mal hörten Matthew und Greathouse Abscheu – und vielleicht ein Zittern von Angst – in seiner Stimme, »war ein Problem, das wir uns bald vom Hals schaffen werden. Er ist uns vor fast einem Jahr aus dem Quäker-Hospital in Philadelphia geschickt worden. Ich kann Euch sagen, dass er mehr verschlagen als verrückt ist. Er hat mich dazu verleitet, ihm Arbeitsprivilegien zu geben, und bei der ersten Gelegenheit hat er versucht, die arme Mariah hinten bei der roten Scheune zu ermorden.« Er deutete auf die Straße, die zu den andern Gebäuden führte. »Tja, die Quäker haben herausgefunden, dass er anscheinend in London als Barbier gearbeitet hat und womöglich in Dutzende Mordfälle verwickelt war. Wir erwarten, im Herbst einen Brief mit der Anweisung zu erhalten, ihn ins Gefängnis von New York zu überführen, damit er nach England verschifft werden kann. Natürlich wird ein Wachtmann mitreisen, damit er auch in Fußeisen ankommt.«
»Wenn ich das zu entscheiden hätte, würde ich ihm das Hirn wegschießen«, sagte Greathouse. »Eine Pistole könnte eine Menge weggeworfenes Geld sparen.«
»Leider haben wir den Quäkern einen Vertrag unterschrieben, dass er bei guter Gesundheit nach New York gebracht wird. Und es bei unserer christlichen Ehre geschworen.« Ramsendell ging zwei Schritte und sagte dann überlegend: »Wisst Ihr, falls die Sache mit der Königin gut verläuft, könntet Ihr Gentlemen Euch überlegen, ob Ihr Euch von uns engagieren lassen wollt, Mr. Slaughter nach New York zu eskortieren.«
»Mr. Slaughter?«, fragte Matthew.
»Ja. Tyranthus Slaughter. Ein verhängnisvoller Name, aber eventuell wohlverdient. Überlegt Euch doch, ob das eine machbare Aufgabe wäre, Sirs. Nur etwas über dreißig Meilen. Was könnte da schon schiefgehen? So, hier sind wir nun.«
Sie hatten das Haus am Garten erreicht. Matthew konnte Geißblatt und Minze riechen. In den Zweigen der Ulmen hinter dem Garten glimmten ein paar Glühwürmchen. Ramsendell holte eine Lederschnur voller Schlüssel aus der Westentasche, steckte einen Schlüssel ins Schloss der Haustür und machte auf. »Passt auf, wo Ihr hintretet, Gentlemen«, sagte er, was sich als unnötige Warnung herausstellte – denn der mit einem langen dunkelblauen Teppich ausgelegte Flur hinter der Tür war von Lampen beleuchtet. Eine Laterne stand auf einem Tisch und auf ungefähr der halben Strecke des Flurs leuchtete ein aus vier Lampen bestehender Lüster, den, so vermutete Matthew, wohl Charles oder ein anderer der mit Privilegien ausgestatteten Patienten angesteckt hatte. Als Matthew hinter den Ärzten das Haus betrat – Greathouse blieb ein paar Schritte zurück, als traute er diesem unvertrauten und so normal wirkenden Haus nicht –, fielen ihm zu beiden Seiten des Korridors zwei geschlossene Türen auf.
»Hier entlang, bitte.« Ramsendell ging zu der letzten Tür auf der rechten Seite. Er klopfte leise, wartete ein paar Sekunden und sagte dann: »Madam? Wir sind es, Dr. Ramsendell und Dr. Hulzen. Wir haben Euch zwei Besucher mitgebracht.« Nichts war zu hören. Er sah Matthew an. »Sie antwortet nie, aber wir glauben, dass sie Höflichkeit zu schätzen weiß.« Er steckte einen anderen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. »Und wir respektieren ihre Privatsphäre.« Etwas lauter an die Dame im Zimmer gewandt sagte er: »Ich öffne jetzt die Tür, Madam.«
Auch darauf kam kein Wort oder Geräusch einer Bewegung. Die Ärzte gingen zuerst hinein, dann Matthew und schließlich ein äußerst zaghafter Greathouse. Matthew fiel ein süßlicher Duft auf, diesmal nicht vom Garten, sondern von einem blumigen Parfüm oder Öl im Zimmer. Hier brannten noch keine Lampen. Das blaue Dämmerlicht fiel durch zwei offene Fenster hinein. Matthew sah, dass sich keine Gitter davor befanden. Die scheibenlosen Fenster standen dem Abend und der Außenwelt offen. Eins ging zum Garten hinaus, während das andere zum Wald hin schaute, wo die Glühwürmchen blinkten.
Hulzen riss ein Streichholz an und zündete die drei Dochte einer Laterne auf dem Tisch an, der unter dem Gartenfenster stand. Die Flammen wurden stärker und tauchten das Zimmer, das wie der Salon eines vornehmen New Yorker Hauses aussah, in ein goldenes Licht. Mehr als vornehm, fand Matthew, als er sich umsah. Fast schon opulent, denn auf dem Boden lag ein schöner, mit kleinen lila, grauen und blauen Quadraten gemusterter Teppich, und an den hellblau gestrichenen Wänden hingen Gemälde in vergoldeten Rahmen. Hulzen zündete eine zweite dreidochtige Laterne an, die am anderen Ende des Zimmers auf einem Sockel stand, und beleuchtete dadurch ein mit verschnörkelten Schnitzereien verziertes weißes Himmelbett, zwei grau gepolsterte Stühle mit hoher Lehne und einen runden Eichentisch, in dessen Mitte eine Holzschale mit reifen Äpfeln und Birnen stand. Neben dem Bett stand ein großer Schrank, der derartig kunstfertig aus dunklem, sattem Holz gefertigt war, dass Matthew dachte, er musste von einem absoluten Meister gebaut worden sein und ein halbes Vermögen gekostet haben. Die Ränder der Schranktüren waren sorgfältig mit kleinen aufgemalten roten Blumen und grünen Blättern verziert und die Griffe sahen aus wie Gold.
Hulzen machte eine dritte Laterne an. Sie warf Licht auf die Matthew und Greathouse gegenüberliegende Seite des Zimmers; auf einen kleinen Kamin, der jetzt, mitten im Sommer, kalt war. Der Funkenschirm davor war bemerkenswert, ein kompliziertes goldenes Metallgeflecht, das in Primärfarben bemalte Vögel auf Ästen darstellte, Rotkardinale, Amseln, Hüttensänger und weiße Tauben. Über dem Kaminsims hing ein gerahmtes Gemälde. Matthew trat näher heran, um es zu betrachten: Es stellte die Kanäle von Venedig in ähnlich blauem Sonnenuntergangslicht wie am Horizont vor dem Fenster dar.
Matthews Blick schweifte über andere Objekte im Zimmer. Er prägte sich einen wahren Reichtum an Details ein. Auf einer Kommode standen kleine Fläschchen, die mit Blumen aus geblasenem Glas verschlossen waren. Daneben lagen eine silberne Haarbürste und ein Handspiegel. Sechs kleine, anscheinend aus Elfenbein geschnitzte Pferde standen neben einer akkurat aufgestellten Reihe von Fingerhüten hinter einer Brille. Auf einem kleinen Tisch lagen eine Bibel, ein Stapel dünner Hefte und – tatsächlich, auch die neueste Ausgabe des Ohrenkneifers.
»Darf ich Euch vorstellen?«, fragte Dr. Ramsendell.
Matthew sah zu ihm hinüber. Ramsendell stand neben dem Fenster, das auf den Wald hinausging. Neben ihm war die hohe Rückenlehne eines dunklen, lilafarbenen Sessels, und jetzt konnten Matthew und Greathouse sehen, dass eine weißhaarige Person darin saß.
Ramsendell sprach mit der Dame im