Paul Stiel
Der Tatbestand der Piraterie nach geltendem Völkerrecht
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
EAN 4064066117108
Inhaltsverzeichnis
Der Tatbestand der Piraterie nach geltendem. Völkerrecht.
§ 5. Vorläufige Definition. Quellen; insbesondere. die Landesstrafgesetzgebungen.
§ 7. Die grundsätzliche Auffassung des Tatbestandes. in der Literatur.
§ 8. Der seepolizeiliche Charakter des Tatbestandes.
§ 9. Der objektive Tatbestand.
§ 10. Der subjektive Tatbestand. a) Die Richtung des. Unternehmens gegen prinzipiell alle Nationen.
§ 11. b) Der Inhalt der piratischen Akte.
§ 13. Ausdehnungen des Piraterietatbestandes in. Landesrecht und Literatur.
§ 14. Kriegsschiffe und Kaper aufständischer Parteien.
§ 16. Der Handel mit Negersklaven.
§ 17. Verletzungen unterseeischer Telegraphenkabel.
Zweiter Abschnitt.
Der Tatbestand der Piraterie nach geltendem Völkerrecht.
§ 5. Vorläufige Definition. Quellen; insbesondere die Landesstrafgesetzgebungen.
I. Piraterie ist ein unpolitisches auf die gewerbsmäßige Ausübung räuberischer Gewaltakte gegen prinzipiell alle Nationen gerichtetes Seeunternehmen.
Wie die Rechtsfolgen der Piraterie, so ist auch ihr Tatbestand seepolizeilicher Natur; sie ist mit der Gefährdung der Interessen gegeben ohne Rücksicht darauf, ob in der Person einzelner oder aller Beteiligter zugleich ein krimineller Tatbestand erfüllt ist.
Die Elemente dieses Tatbestandes sind ein physisch-lokales, Lebensführung ganz oder teilweise auf hoher See (courir les mers), und ein psychisches, die Absicht der Verübung räuberischer Gewalttaten gegen prinzipiell jeden Träger der in Frage stehenden Lebensgüter in Verfolgung privater Interessen.
Durch das psychische Element des Tatbestandes ist bestimmt, in welchem Umfang die „Lösung vom Heimatstaate“ oder „faktische Denationalisierung“ Begriffsmerkmal der Piraterie ist. Die Bedeutung eines selbständigen Merkmals kommt ihr nicht zu.
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II. Die arge Zerfahrenheit, die in der Lehre vom Tatbestande der Piraterie herrscht66, rührt nicht zuletzt davon her, daß man sich nicht darüber klar geworden ist, aus welchen Quellen der Begriff zu schöpfen sei.
Die vornehmste Erkenntnisquelle des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechtes ist das Verhalten der Staaten. Diuturnus usus, opinio necessitatis können nur auf induktivem Wege aus der Staatenpraxis nachgewiesen werden. Es kommt aber nicht so sehr das tatsächliche Verhalten im einzelnen Falle in Betracht, für das, wie es die Kompliziertheit des Konkreten nicht anders erwarten läßt, regelmäßig eine Vielheit rechtlicher Gesichtspunkte bestimmend ist, ohne daß der Anteil der einzelnen an der Gesamtwirkung immer erkennbar wäre, als vielmehr die autoritative Fixierung der Rechtsüberzeugung in — möglicherweise durch den Einzelfall veranlaßten — Erklärungen wie Noten, Verwaltungsvorschriften, Verträgen, Gesetzen, in denen die verschlungenen Elemente der Wirklichkeit zu Rechtsbegriffen geordnet sind.
Die Frage nach dem Tatbestande der Piraterie kann man dahin formulieren, an welche Voraussetzungen Recht und Pflicht der Staaten zur Aufbringung eines Fahrzeuges aus dem Grunde der Piraterie geknüpft sei (siehe § 1). Hiernach ist das Material zu seiner Bestimmung vornehmlich in denjenigen Gesetzen und Verwaltungsvorschriften der einzelnen Staaten zu suchen, die den Dienst der Kriegsflotte regeln67.
Es ist nun aber nicht zu verkennen, daß die Ausbeute, die die Marinegesetze und -instruktionen gewähren68, ge[pg 30]ringfügiger ist, als man erwarten möchte. Zur Unterstützung der aus ihren Bestimmungen zu gewinnenden Resultate soll daher außer, wie selbstverständlich, der Literatur auch die Geschichte herangezogen werden. Dies bedarf einer Rechtfertigung.
Das Piraterierecht als völkerrechtliches Rechtsinstitut in dem heutigen Sinne ist eine Erscheinung jungen Datums. Der Gedankenkreis der Meeresfreiheit, in den es sich einfügt (s. o. § 1), ist noch im 18., in einzelnen Beziehungen selbst noch im Anfang des 19. Jahrhunderts nicht mehr als ein von einer — freilich stets wachsenden — Anzahl von Staaten verfochtenes politisches Prinzip. Mag auch die Piraterie zu allen Zeiten bekämpft worden sein, so sind doch die rechtlichen Grundlagen des Einschreitens in alter und neuer Zeit durchaus verschieden. Einen der Gründe der Unsicherheit ihres völkerrechtlichen Tatbestandes darf man darin sehen, daß sie ihre heutige Stellung im System des Völkerrechts erst erlangte, als ihr tatsächliches Vorkommen schon selten geworden war.
Entbehren nun aber auch hienach die alten Rechtssätze des Piraterierechts jeder praktischen Anwendbarkeit, so haben sie doch einen nicht zu unterschätzenden