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Lektorat: Stefanie Reimann
Titelbild: Adobe Stock
ISBN 978-3-939362-09-8
3. Auflage, 2021
1
Es ist ein wunderschöner, sonniger Wintertag. Keine Wolke bedeckt den strahlend blauen Himmel. Ich bin allein und genieße die Aussicht hoch oben auf der Spitze des Gletschers. Schnee und Eis bedecken die Landschaft, soweit das Auge reicht. Es ist kalt, sehr kalt. Ich trage nur ein weißes Brautkleid, aber ich spüre die Kälte nicht. Ich genieße sie. Ich stelle mich auf meine Skier und beginne mit der Abfahrt. Im schnellen Tempo jage ich den Gletscher hinunter. Ich bin eins mit dem Eis. Alles ist weiß, mein Brautkleid, der Schnee und das Eis. Schnell und wendig umfahre ich alle Hindernisse und spüre diese Euphorie in mir. Ich fühle mich unverwundbar. Niemand kann mich aufhalten.
Doch plötzlich, ich bin schon ein ganzes Stück hinabgefahren, gesellt sich ein anderer Skifahrer zu mir. Ich ignoriere ihn und fahre konsequent meine Spur. Doch er bleibt dicht neben mir. Wir kommen an einem Tableau an und halten inne. Ich betrachte ihn mir nun genauer. Er sieht sehr nett aus. Mir wird warm. Es entwickelt sich ein Gespräch zwischen uns. Er scheint gar nicht zu bemerken, dass ich nur mein weißes Brautkleid trage. Wir lernen uns kennen und erstaunt stelle ich fest, dass ich ihn mag. Die Sonne glitzert im weißen Pulverschnee und ich spüre, wie er allmählich schmilzt. Wir lachen gemeinsam und fahren noch ein Stück zusammen den Berg hinunter. Dabei wird mir immer wärmer. Nach einer weiteren kurzen Abfahrt halten wir wieder an. Dann fasse ich einen Entschluss. Ich reiße mir das Brautkleid vom Leib und stehe nackt vor ihm im Schnee. Die Sonne scheint auf meine Haut und ich spüre so etwas wie Liebe. Er betrachtet mich verwundert, mustert mich von Kopf bis Fuß. Plötzlich dreht er sich um und fährt weiter den Berg hinab. Er lässt mich nackt im Schnee stehen und sucht sich seinen eigenen Weg. Ich schaue ihm hinterher und beginne zu frieren. Zum ersten Mal spüre ich die Kälte. Sie durchdringt mich bis auf die Knochen.
»Wissen Sie, was das Komische an diesem Traum war?«
Siebels saß am Krankenbett von Sabine Lehmann und schüttelte verneinend den Kopf.
»Es war die Kälte. Sie konnte mir nichts anhaben. Ich war immun gegen die tiefen Temperaturen. Erst als er ohne mich weitergefahren war, spürte ich auf einmal diese Kälte. Auch wenn ich aufwache, fühle ich mich, als würde ich in einem Eisschrank sitzen. Obwohl ich genau weiß, dass es nur ein Traum war. Ein immer wiederkehrender Traum. Einer von so vielen. Ich habe noch nie jemandem von diesen Träumen erzählt. Sie sind der Erste. Möchten Sie auch die anderen Träume hören?«
Siebels nickte stumm, aber Sabine Lehmann schlief vor seinen Augen ein.
Der Arzt wollte sie für eine Woche zur Beobachtung im Krankenhaus behalten. Nach der ersten Untersuchung hatte er ihr eine völlige Erschöpfung bescheinigt. Siebels stand auf und verließ das Krankenzimmer. Draußen vor der Tür saß ein Beamter in Uniform. Nun würde die Polizei für die ganze Woche einen Beamten vor dem Krankenzimmer von Sabine Lehmann postieren müssen. Siebels war eigentlich nur gekommen, um ein Geständnis von dieser entkräfteten Frau entgegenzunehmen. Das Geständnis, dass sie eine Mörderin war. Nun ging er mit leeren Händen und dem komischen Gefühl, der erste Mensch zu sein, der von ihren Träumen erfuhr.
2
Montag, 02. Februar 2009, 18:05 Uhr
Siebels saß müde am Schreibtisch und tippte seinen Bericht in den PC. Vom Krankenhaus war er direkt ins Präsidium gefahren. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er den Traum von Sabine Lehmann so detailgetreu wie möglich niederschreiben musste.
Staatsanwalt Jensen hatte ihm am Tag zuvor die Ermittlungen zu dem Fall übertragen. Till, Siebels jüngerer Teamkollege, lag mit Grippe im Bett und Siebels war Anfang des Jahres dazu verdonnert worden, seine exorbitant hohe Anzahl von Überstunden abzubauen. Da war so ein klarer Fall wie der von Sabine Lehmann genau das Richtige für das dezimierte erfolgreiche Duo der Frankfurter Mordkommission, hatte Jensen am Tatort erläutert.
Der Tatort war die Wohnung von Sabine Lehmann. Die 34-jährige hatte selbst die Polizei gerufen, bevor sie die Überdosis Schlaftabletten zu sich nahm. Dass die Polizei vor ihrem Tod eintraf, war weibliches Kalkül, hatte Jensen spekuliert. Sven Müller war der Lebenspartner von Sabine Lehmann. Sein Tod war eingetreten, bevor der Anruf bei der Polizei einging. Auf seinem Schädel hatte die mutmaßliche Täterin Sabine Lehmann eine leere Weinflasche zertrümmert. Die Obduktion stand noch aus, aber der Gerichtsmediziner Pauli hatte wenig Zweifel an Todesursache und Tathergang.
Doch Siebels zweifelte daran, nachdem er den Traum von der Skifahrt abgetippt hatte, sich zurücklehnte und eine Zigarette anzündete. Er hatte keinen Grund zum Zweifeln. Jedenfalls keinen vernünftigen. Nur dieses vage Gefühl, dass da noch mehr war, im Fall Sabine Lehmann.
Charly kam fröhlich pfeifend in Siebels Büro gelaufen. »Hat sie gestanden?«, fragte er mehr beiläufig und setzte sich auf den Stuhl des grippeerkrankten Till.
»Nein«, seufzte Siebels.
»Sie streitet es ab?«
»Nein. Sie träumt merkwürdige Dinge.« Siebels druckte seinen Bericht aus und reichte ihn Charly hinüber. Charly wiederum händigte Siebels einen kleinen Stapel Papier aus. Es handelte sich um die Ergebnisse seiner heutigen Bemühungen im Fall Lehmann. Charly unterstützte Siebels und Till bei Bedarf mit Hintergrundrecherchen und fütterte die beiden mit Informationen, die er mit viel Fleiß und nicht immer legalen Mitteln zusammentrug. Der Computerfreak war offiziell EDV-Spezialist bei der Frankfurter Polizei.
Siebels überflog die Papiere von Charly und zog dabei tief an seiner Zigarette. Das Mordopfer Sven Müller war 32 Jahre alt, als freier Journalist und Buchautor tätig und Träger der Blutgruppe Null.
»Die Blutgruppe hat hier nix zu suchen, die gehört in den Obduktionsbericht«, rügte Siebels seinen Kollegen.
»Nackiges Skifahren gehört hier aber auch nicht rein, das gehört bestenfalls in den Bericht des Psychologen«, konterte Charly. »Außerdem wollte der frischgebackene Vater doch schon längst mit dem Rauchen aufgehört haben, oder?«
»Habe heute schon fünf Mal damit aufgehört«, erklärte Siebels und schaute wieder in Charlys Papiere. Sabine Lehmann arbeitete seit vier Jahren als selbstständige Consultant und war Partnerin bei Paulsen und Partner.
»Muss das nicht Consultine heißen?«, erkundigte sich Siebels und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.
»Wenn schon, dann Consultess. Das ist schließlich ein renommierter Job.«
»Was genau hat sie denn so Renommiertes getan? Was ist eigentlich eine selbstständige Partnerin?«
»Paulsen und Partner ist eine der renommiertesten Gesellschaften der Branche. Exakt heißt der Laden Paulsen und Partner UVI-Consulting. U steht für Unternehmensberatung, V für Vermögensberatung und I für Immobilienberatung. Herr Paulsen hat die Gesellschaft 1996