Aus meinem Jugendland. Isolde Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066112127
Скачать книгу
Träger. Die Professoren waren der Mehrzahl nach mit solchen versehen, und manche weitgefeierte Leuchte der Wissenschaft ging in der kleinen Stadt unter irgendeiner närrischen, zuweilen auch wirklich witzigen Bezeichnung einher. Was gab es aber auch für Originale unter diesen Professoren! Grundgelehrte Herren, jedoch im Äußeren nicht selten sehr vernachlässigt und mit den seltsamsten Gewohnheiten behaftet. Zu diesen fragwürdigen Gestalten gehörte der Germanist Holland, der Herausgeber von Uhlands Nachlaß, der auch über italienische Sprache und Literatur las. Bekannt war die Ermahnung, mit der er seine Schüler zu entlassen pflegte, sie möchten vor allem danach trachten, ins Konversationslexikon zu kommen, denn wer es dahin gebracht habe, der sei geborgen und brauche nichts mehr zu studieren. Er hatte häufig nur einen Hörer im Kolleg, der zu höflich war, ihn mit den vier Wänden allein zu lassen. Diesen ließ er einmal in die Heimlichkeiten seines Junggesellenhaushalts blicken. Wissen Sie, Herr M..., sagte er zu ihm, die Wäscherinnen sind so unsauber (er drückte sich drastischer aus), man kann ihnen die Wäsche nicht anvertrauen. Ich schlafe deshalb seit zehn Jahren auf dem Schwäbischen Merkur. Als dieser Dante- und Boccaccioausleger uns in viel späteren Jahren einmal in der Heimat Dantes und Boccaccios besuchte, da war Holland in Not, denn das Italienisch, das er jahrzehntelang an der württembergischen Alma mater gelehrt hatte, wurde an Ort und Stelle von niemand verstanden.

      Noch viel wunderlicher klangen aber die Anekdoten, die von verschwundenen Generationen übrig waren. Ein älterer Landgeistlicher, Verwandter meines Vaters, der ein hinreißendes mimisches Talent besaß, pflegte uns Kindern solche Geschichten aus seiner eigenen Studienzeit zu Dutzenden zu erzählen und vorzuspielen. In welche verschollene Biedermeierwelt sah man hinein, wenn man hörte, daß ein Professor der Philosophie seinen psychologischen Vortrag mit näselndem Ton und in mühsamem Hochdeutsch, durch das der Dialekt schimmerte, also zu beginnen pflegte: Jengleng, wenn dich die Liebe plagt, so klage es (hier wurden die Finger in Bewegung gesetzt): a) den Sternen; so deren keine da sind, b) den Wiesen; so auch deren keine gefonden werden, c) den Waldbächen. Denn das Rieseln ond Rauschen der Waldbäche lendert und mendert den physischen ond psychischen Schmerz einer moralisch niedergedrückten Seele.

      Auch in der jungen Generation schossen die Sonderlinge ins Kraut, obgleich sie nun doch schon einen viel weltmännischeren Anstrich bekamen. Wer erinnert sich nicht aus den siebziger Jahren an die Gestalt des Dr. Euting, der als jüngster Kollege meines Vaters an der Universitätsbibliothek amtete und sich später von Straßburg aus als Orientreisender einen Namen machte? Er war weit unter Rekrutenmaß, hatte aber sehr breite Schultern und einen sportlich entwickelten Körper, der sich in den straffen, schnellenden Bewegungen verriet. Euting war damals schon im Orient gewesen und gehabte sich seitdem als Türke. Seine Beweglichkeit, seine schwarzen, umherspringenden Augen, ein seltsam gerunzeltes, aber doch junges Gesicht, das aussah wie von heißerer Sonne gedörrt, gaben ihm ein völlig fremdartiges Ansehen. Den gewesenen Stiftler merkte man ihm nicht mehr an, er lehrte jetzt semitische Sprachen, besonders das Arabische. Als außerordentlich mutiger Mensch, der er war, hauste er mutterseelenallein in dem unheimlichen „Haspelturm“ hinter dem Schlosse. Da bei Einbruch der Dunkelheit die nach dem Schloßhof führende Pforte geschlossen wurde, war er bei Nacht in seinem Turm von allen Lebenden geschieden. Er hatte es durchgesetzt, in diesem ehemaligen Gefängnis der zum Tode Verurteilten, dessen durch keine Treppe erreichbares Verließ noch Menschenknochen bergen sollte, sich ein paar Zimmer einrichten zu lassen, denen er durch orientalische Teppiche und Decken ein einigermaßen wohnliches Ansehen gab. Dort saß er mit untergeschlagenen Beinen, den roten Fes auf dem Kopf, am Boden, aus mächtiger Wasserpfeife rauchend, und bewirtete seine Besucher und Besucherinnen mit selbstgebrautem türkischem Kaffee in winzigen Schälchen, alles echt und stilgerecht. Dabei erzählte er von Wüstenritten, Haremsbesuchen und dergleichen. Er war ein lebhafter Verehrer der Damenwelt, doch war ihm seine Kleinheit beim weiblichen Geschlechte hinderlich, mehr noch sein bekannter Ausspruch, daß er hoffe, dermaleinst mit zwölf jungen Eutings über die Neckarbrücke zu spazieren, alle vom gleichen Wuchs und gleicher Schneidigkeit wie er. Ihm war es gegeben, seine Eigenheiten noch über den Tod hinaus fortzusetzen. Er baute sich zu Lebzeiten mitten unter den freien Schwarzwaldtannen des Ruhsteins sein Grab und bestimmte, daß einmal im Jahr, an seinem Geburtstag, jeder Besucher an dieser Stätte mit einer Tasse Kaffee gelabt werden sollte. Erst die Kaffeeknappheit des Weltkriegs hat diesen schönen Brauch in Abgang gebracht. Doch wir müssen dieses späte Bild verwischen, um wieder zu den Sonderlingen des alten Tübingen zurückzukehren.

      Da war unter anderen der Ewige Student, ein Mensch, der bis zu seinem Tode auf der Universität verblieb und der mit der Zeit mehr als vierzig Semester auf den Rücken bekam. Er hatte sehr ansehnliche Stipendien, die ihm solange ausbezahlt wurden, als er studierte; diesen zuliebe studierte er immer weiter, Chemie und Naturwissenschaften, ohne je ein Examen zu machen. Mit der Zeit hatte er es doch zu ganz tüchtigen Kenntnissen gebracht, die ihm gestatteten, andere Studenten aufs Examen vorzubereiten. Als diese dann mit der Zeit Professoren wurden, hörte er selber wieder bei ihnen Kolleg. Mein Bruder Alfred fragte ihn als Student einmal, wie er doch nur bei seinen eigenen ehemaligen Schülern im Hörsaal sitzen und so eifrig nachschreiben möge. O, antwortete er, da ist jedes Wort Gold, es kommt ja alles von mir selber.

      Von einem anderen Mediziner wurde erzählt, daß er als verbummelter Student mit sehr geringen Kenntnissen nach Amerika durchgebrannt sei und sich während des Sezessionskrieges den Nordstaaten als Arzt zur Verfügung gestellt habe. Dort stieg er bis zum Generalarzt auf. Aber nach Friedensschluß wurde ihm doch wegen seiner Stellung bange, er kehrte mit dem erworbenen Titel nach Tübingen zurück, hörte wieder Kolleg, und die Professoren, denen sein Auftreten Eindruck machte, ließen ihn denn auch glimpflich im Examen durchschlüpfen.

      Unter den Kleinbürgern gab es ebenfalls ganz merkwürdige Gestalten, die von der Jugend mit Vorliebe aufgesucht wurden und die sich die studentische Gesellschaft zur besonderen Ehre schätzten. Eine der bekanntesten war der alte Hornung, ein uralter Veteran von 1813. Er saß jeden Abend im Wirtshaus und spielte Karten; dabei war er als sehr geizig bekannt. Edgar setzte sich in seiner Studentenzeit gern zu ihm und malte ihm, während er spielte, einen Kreuzer auf den Tisch. Da er nicht mehr gut sah und gern mogelte, griff er danach: Der ist auch noch mein! und wollte ihn einstreichen. Das nächstemal wurde ein Kreuzer an eine andere Stelle gemalt, und er griff abermals danach. Auf den alten Hornung wurden in Tübingen die bekannten Napoleonanekdoten aus der Schlacht von Leipzig übertragen. Eine aber hörte mein Bruder aus seinem eigenen Munde: Ein französischer Sergeant hatte als Vorgesetzter den Mann viel drangsaliert. Als sie nun eines Tages Seite an Seite über einen Graben setzen, fällt der Franzose und ruft um Hilfe. Der Hornung aber reitet weiter, indem er mit Nachdruck spricht: Wer reit’t, der reit’t, und wer leit, der leit (liegt).

      Die ganze bunte Tübinger Romantik gehörte nun aber einzig und allein dem Studenten. Daneben lebte und webte Tür an Tür das engste Spießbürgertum. Die Geselligkeit war durch strengen Kastengeist geregelt und entbehrte der Anmut. Die Frau als gesellschaftliche Macht versagte ganz. Man sah aller Enden hübsche junge Mädchen, aber äußerst selten eine hübsche junge Frau. Sobald sich die damaligen Schwäbinnen verheirateten, hielten sie nichts mehr auf ihre Person. Nach Pflege des Geistes und Körpers zu streben, galt für „Emanzipiertheit“ und Eitelkeit und war überdies ein Zeichen mangelnder Hausfrauentugend. Es konnte vorkommen, daß der Mann hohe akademische Würden innehatte und daß die Frau Magddienste verrichtete. Nicht aus Not, sondern weil sie keine höheren Ziele kannte. So vermochte der ganze Lebensstil sich nicht zu erheben. Auch der Student lernte nur die Reize des Studentenlebens, nicht die einer höheren Geselligkeit kennen. Und wie phantastisch er’s getrieben haben mochte, am Schluß der Universitätsjahre mußte auch er unterducken, sich der lähmenden Enge einreihen, wenn er im Lande sein Auskommen finden wollte. Darum klang auch so wehmütig der Sang der Abziehenden: Muß selber nun Philister sein, ade!

      Um die aus den Tübinger Verhältnissen hervorgehende Einseitigkeit oder Verwilderung zu bekämpfen, war Friedrich Vischer, solange er in Tübingen lebte und lehrte, bemüht, die Verlegung der Universität in die Landeshauptstadt durchzusetzen. Damit wäre freilich zugleich aller Reiz der Überlieferung aus dem studentischen Leben geschwunden. Er fand aber mit diesem Lieblingsgedanken keinen Anklang und konnte nur für seine eigene Person die Wahl treffen, indem er endgültig das Stuttgarter Polytechnikum dem Tübinger Lehrstuhl vorzog und so die Universität eines ihrer größten Namen beraubte.