Ich möchte ja nun die Ansicht meiner Mutter über diese Erziehungsfrage nicht ohne weiteres gutheißen. Schon weil man einem Kinde das künftige Leben nicht leichter macht, wenn man es so streng von der Außenwelt absperrt, daß es nicht einmal die religiösen Vorstellungen seiner Zeitgenossen kennt. Aber ein Gutes war doch dabei: daß mir später die unbegreifliche Gestalt des Menschensohnes so ursprünglich und unberührt von Phrase und Herkommen aus den Evangelien entgegentrat, wie ihn die frühen christlichen Jahrhunderte gekannt haben.
Die Rike aber hatte sich über uns im Dorfe beklagt, und eines Tages rückte die ländliche Jugend mit Stecken und Steinen bewaffnet vor unsere Gartentür und forderte unsere Heidenschaft zum Kampf. Wir sahen von der Gartenmauer, daß sie uns an Zahl und Körpergröße sehr überlegen waren. Dafür aber waren wir Götter und Helden, sie nur Bauernjungen. Schnell wurden die Rüstungen angelegt, und als wir hinter dem Pförtchen aufgestellt waren, drückte Edgar, der den Oberbefehl hatte, auf die Klinke, wir anderen stießen mit unseren goldenen Speeren die Tür vollends auf. Die Rotte stand einen Augenblick sprachlos vor soviel Goldpapier, und wir glaubten schon Sieger zu sein. Da prasselte ein Regen von Steinen und Kastanien auf uns, ein langer Lümmel ging mit einem großen Stecken auf unseren schmächtigen, aber tapferen Führer los; sowohl der dicke Ares wie Pallas Athene wollten ihm zu Hilfe kommen, da wurde letztere von hinten am Arm zurückgezogen, denn die gute Josephine war auf den Lärm herzugestürzt. Sie verscheuchte mit Drohungen die Gassenbengel und führte Götter und Helden ins Haus zurück.
Tante Berta und die Schwabenstreiche.
In jenen Tagen gingen auch die guten Holden noch leibhaft auf Erden. Ich meine jenes jetzt untergegangene Geschlecht freiwilliger Helferinnen, das, als man von organisierter sozialer Arbeit noch nichts wußte, mit seiner Fürsorge jeden kinderreichen Haushalt umschwebte. Es waren einsame, vom Glück vergessene Frauen, die ihr Muttergefühl antrieb, fremde Kinder zu betreuen und in der Anhänglichkeit an fremde Familien Ersatz für die versagte eigene zu suchen. In Obereßlingen saßen ihrer gleich mehrere beisammen. Sie kamen, wenn eine Krankheit im Hause war, und pflegten; sie stellten sich bei der großen Monatwäsche ein und machten, indem sie sich der Kinder annahmen, häusliche Kräfte frei, sie halfen in den Weihnachtstagen beim Backen und beim „Dockeln“ (Puppenkleidernähen). Die Welt wäre ein gut Teil unwohnlicher gewesen ohne ihre Nähe. Sie begehrten und erhielten auch wie die richtigen Feen keinen Dank, als daß sie das nächste Mal wiederkommen durften. Wir nannten sie Tanten und verehrten durch ihre häufig etwas fragwürdige Leiblichkeit hindurch die innere Feennatur.
Die edelste unter ihnen war die Besitzerin eines benachbarten Kramlädchens, unsere geliebte „Tante Berta“, der ich schon in der Lebensgeschichte meines Vaters ein kleines Gedächtnismal gesetzt habe. Sie ist aus meinen Jugenderinnerungen schlechterdings nicht wegzudenken. Wie oft kam sie und holte uns Kinder zu langen Spaziergängen ab, um unsere getreue Josephine zu entlasten und meinem von ihr still verehrten Vater ein paar Stunden völliger Ungestörtheit zu verschaffen. Sie strickte von früh bis spät, im Stehen und Gehen, denn jeden Abend mußte ein Paar Strümpfe fertig sein, womit sie ihren ganzen Bekanntenkreis beglückte. Sie sprach ein gebildetes, aber stark dialektisch gefärbtes Hochdeutsch, in dem sich viele altertümliche Wörter und Wendungen umtrieben, deren ich verschiedene später mit großem Vergnügen in Grimmelshausens Simplizissimus wiederfand. Für Stecknadeln gebrauchte sie stets das schöne, ausdrucksvolle Wort „Glufen“, das ich ihr zwar nicht nachsagte, weil es mir seltsam veraltet und zugleich erniedrigt klang, das ich aber ungemein gerne hörte. Ich dachte dabei immer an eine schöne altertümliche Fibula, obwohl das Wort jede Art von Stecknadeln bezeichnete.
Auf unseren Spaziergängen erzählte uns Tante Berta uralte Geschichten und Anekdoten, die von Geschlecht zu Geschlecht gingen und vielleicht niemals aufgezeichnet worden sind. So von der Bauersfrau, die im Sterben lag, aber gern noch abgewartet hätte, wie der „Gockeler“ (Turmhahn), der ausgebessert werden sollte, glücklich von dem hohen Kirchturm heruntergebracht würde. Als es gar zu lange dauerte, faßte sie sich in Ergebung und sagte nur noch: Deant mir’s au nom verbiada (laßt mich’s hinüber wissen), wenn wieder ebber (jemand) stirbt, wia’s vollends gangen ischt. Oder von dem Gastwirt, der seine in den letzten Zügen liegende Frau pflegte, und als er durch das Klingeln der Gäste abgerufen wurde, ihr gemütlich die Hand gab mit den Worten: So, jetzt komm halt vollends gut ’nüber! Ferner von der Witwe des Musikanten, die der Leiche ihres Gatten folgte und plötzlich unter dem Wirtshaus, das der Schauplatz seiner künstlerischen Leistungen gewesen, in den lauten Klagegesang ausbrach: O, wie oft hast du da drinnen: Dideldum, dideldum, dideldum! (Dabei ging der Gesang in die Gebärde des Fiedelstreichens und Hüpfens über.)
In jener älteren Zeit, aus der ihre Geschichten stammten, scheint im Schwabenvolk überhaupt noch ein Nachklang der alten Totenklage erhalten gewesen zu sein, denn sie erzählte auch von einer Mutter, die ihrem Sohne ins Grab die fast homerische Klage nachrief: O du mei liebs Knechtle (für Kind), du Zuckerstengel, du siebenhemmeticher (der sieben Hemden besitzt), drei hosch g’het und viere hätt i dir no mache lau. Mit Vorliebe spielten ihre Geschichten auf dem Gottesacker, und sie liebte es, ihnen, auch wenn sie noch so schnurrig waren, etwas Schauriges beizumischen. Außerdem wußte sie aber auch eine Reihe richtiger Schwabenstreiche, von denen ich hier einige möglichst mit ihren Worten dingfest machen will, weil sie mir nirgends noch gedruckt begegnet sind:
Wie’s gemacht wird.
Herzog Karl von Württemberg war ein großer Jagdfreund, wie auch in „Schillers Heimatjahren“ zu lesen ist, und das Landvolk litt unter seiner Regierung schwer vom Wildschaden, gegen den es sich nicht wehren durfte, denn es war streng verboten, Wild abzuschießen. Ein Bäuerlein aber, dem wiederholt seine Rüben- und Krautäcker abgefressen wurden, wußte sich zu helfen und legte in seinem Hof eine Hasenfalle an, die so kunstreich mit einer Glockenschnur verbunden war, daß, so oft einer vom Geschlecht Lampe sich fing, die Glocke von selbst das Zeichen gab. Dann ging das Bäuerlein hinaus und holte sich einen fetten Braten für die Küche. Der Mann aber hatte Feinde, und die verrieten dem Revierförster seine schöne Einrichtung.
Begibt sich der Revierförster zu dem Übeltäter: Hanspeter, ich habe gehört, daß du dir eine Hasenfalle angelegt hast. — Jawohl, Herr Revierförster, antwortet der Bauer treuherzig. — Ja, weißt du nicht, daß du einen Diebstahl an unserem Herrn Herzog begehst und daß du in Strafe verfallen bist? — Ha, sell wär’! sagt der Hanspeter und versichert, daß er von keiner einschlägigen Verordnung wisse. Das scheint dem Förster sehr unglaubhaft und er setzt dem Erstaunten auseinander, daß Unkenntnis des Gesetzes auch gar nicht vor Strafe schütze. Während sie noch reden, klingelt es vom Hofe her und beide schauen auf.
Hören Sie’s, Herr Revierförster? sagt der Hanspeter mit seinem dummschlausten Gesicht. Da sitzt schon wieder einer und zeigt sich an. Jetzt kommen Sie nur mit, dann sehen Sie gleich selber, wie’s gemacht wird. Der Förster lacht sich ins Fäustchen, daß er nun beide zugleich in der Falle hat, den Hasen und den Bauern. Er folgt dem Mann in den Hof, verwundert über ein solches Maß von Dummheit. Dort zieht der Bauer Herrn Lampe bei den Löffeln aus der Falle, hält ihn vor sich und überschüttet ihn mit Schimpfreden: Meinst du, ich pflanz’ meine Krautköpf’ und meine Rüben für dich, du elender S..hund! Wart, ich will dir Respekt einbläuen, daß du das Wiederkommen vergißt! Dies sagend, gerbt er dem Hasen das Fell, schüttelt ihn dann noch einmal an den Löffeln und sagt: So, jetzt lauf heim, sag’s